Die Sonntagsfrage

Warum ist Heimat für Sie heikel, Herr Safranski?

20. Juli 2015
von Börsenblatt
Rüdiger Safranski lebt in Badenweiler, wo er eigene Literaturtage auf den Weg gebracht hat. "Heikle Heimat": Das ist im zweiten Jahr das Thema des Festivals - aus gutem Grund, wie der Autor und Philosoph in seiner Antwort auf unsere Sonntagsfrage schreibt.

"Ich bin 1945 im württembergischen Rottweil zur Welt gekommen. Meine Familie floh aus Ostpreußen, ich  war dabei, im Mutterleibe, ein pränataler Heimatvertriebener könnte man sagen. Aber das stimmt natürlich nicht, denn jenes Ostpreußen war nie eine Heimat für mich, weil ich es noch nicht erlebt hatte. Gleichwohl hat man die Kinder und Enkel der Vertriebenengeneration gerne unter die Heimatvertriebenen gerechnet, aus politischen Gründen, versteht sich. Ich persönlich also hatte sie nicht verloren – die Heimat. Ich wuchs auf in Rottweil, zog zum Studieren nach Frankfurt, später nach Berlin. Seit einiger Zeit aber bin ich wieder im Südwesten ansässig, in Badenweiler. Offenbar zieht es mich in die Heimatregion zurück.

Heimatgefühle stimmen versöhnlich. Man kann sich nur schwer dagegen wehren, sie mit der Vorstellung von heiler Welt zu verbinden. Man schätzt die Heimat, ist aber auch sogleich bereit, sie zu überschätzen. Was gefährlich werden kann. Die Heimatsehnsucht birgt, besonders in Deutschland, politischen Sprengstoff in sich. Denn in einem Land, das einst mit dem Schlachtruf ‚Volk ohne Raum’ im großen Stil anderen Völkern die Heimat zerstört oder sie daraus vertrieben hat und dann selbst  Zerstörung und Vertreibung erdulden musste, in diesem Land hatte das Reden über Heimat für eine gewisse Zeit seine Unschuld verloren.

Aber hoffentlich nur für eine gewisse Zeit, denn inzwischen brauchen wir wieder eine Positivbewertung von Heimat, weil sie ganz einfach zum Menschen gehört, auch im Zeitalter der Globalisierung. Man braucht die Verankerung in einer jeweiligen lokalen Gemeinschaft, die zwar wechseln kann, aber nicht allzu häufig. Wir können global kommunizieren und reisen, wir können aber nicht im Globalen wohnen. Wohnen können wir nur hier oder dort, aber nicht überall zugleich. Diese gefühlsgesättigte Ortsverbundenheit, dieses Festhalten am sinnerfüllten Lebensraum, das ist es, worauf der schöne deutsche Ausdruck "Heimat" hinweist.

Heimat, die man braucht, und Heimatsehnsucht mit ihrem politischen Sprengstoff machen das Heikle der Heimat aus."

Literaturtage Badenweiler

Die Literaturtage Badenweiler, von Rüdiger Safranski initiiert und moderiert, stehen unter dem Thema "Heikle Heimat" (17. bis 20. Oktober). Zu den Autoren, die nach Badenweiler kommen, gehören  Herta Müller, Edgar Reitz, Sibylle Lewitscharoff und Cees Nooteboom. Das genaue Programm unter www.badenweiler-literaturtage.de.