Friedenspreis für Swetlana Alexijewitsch

"Unerschütterlicher Glaube an eine andere Welt"

27. Februar 2015
von Börsenblatt
Der Bundestagspräsident Norbert Lammert hielt beim Essen nach der Verleihung des Friedenspreises an Swetlana Alexijewitsch eine Tischrede, in der er die Autorin und den "wohl wichtigsten unter den zahlreichen deutschen Kunst- und Kulturpreisen" würdigte. Wir geben die Rede hier im Wortlaut wieder:

"Sehr geehrter lieber Herr Honnefelder, verehrte Frau Alexijewitsch, meine Damen und Herren,

der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ist auch deshalb − vielleicht insbesondere deshalb − zu dem wohl wichtigsten unter den zahlreichen deutschen Kunst- und Kulturpreisen geworden, weil er Literatur und Leben, Kunst, Kultur und Politik mit einem Anliegen verbindet, das − wie der Vorsteher das heute Morgen in seiner Begrüßung formuliert hat − das fragilste unter den Gütern der Menschen ist: der Frieden.

Das ist nicht nur eine schöne Formulierung, das ist auch zweifellos eine richtige Beobachtung, die allerdings die Nachfrage geradezu nahelegt, was denn eigentlich das stabilste unter den Gütern der Menschen sei. Der nüchterne Befund müsste wohl lauten, weder die Freiheit noch die Gleichheit noch die Brüderlichkeit, um mal nur bei den großen Idealen der bürgerlichen Revolution zu bleiben, sind stabile Güter. Ein für alle Mal gesichert. Und der stolze erste Artikel unserer Verfassung: "Die Würde des Menschen ist unantastbar" formuliert ja wiederum keine stabile Erfahrung, sondern die trotzige Behauptung, dass es so sein müsste − trotz der bitteren Erfahrung, dass es anders ist. Und der Beleg dafür, dass es allzu häufig anders ist, ist in keinem Land gnadenloser erbracht worden als in Deutschland.

Sie, verehrte Frau Alexijewitsch, haben in Ihrer Arbeit, in Ihren Büchern sich gegen diese bittere Erfahrung aufgelehnt. Sie weigern sich, die Realität zur Kenntnis zu nehmen, wie sie ist, und tun, was Sie können, um mit den Mitteln der Sprache, der Schrift, der Dokumentation von Realitäten Einfluss darauf zu nehmen, dass die Welt sich etwas mehr den Überzeugungen annähert, die sie immer wieder gerne formuliert, aber leider eher selten realisiert. Sie tun das mit Trotz, mit Mut, mit Selbstbewusstsein, mit Kraft, mit dem unerschütterlichen Glauben daran, dass eine andere Welt möglich ist, als diejenige die Sie erfahren haben und die Sie beschreiben.

Und das, was Sie beschreiben, ist ja leider alles andere als Science-Fiction, es ist auch nicht im Wortsinn schöngeistige Literatur, es ist eher so etwas wie eine Enzyklopädie der Menschheit und der Verhältnisse, unter denen Sie leben. Der Blick, den Sie auf die Realitäten richten, ist nach meinem Empfinden rücksichtslos gegenüber den Realitäten und mitfühlend gegenüber den Menschen. Und dabei scheuen Sie sich auch keinen Augenblick davor, nicht nur die Fakten unmissverständlich zu benennen, sondern auch Namen zu sagen. Vermeintlich lupenreine Demokraten werden bei Ihnen als autoritäre Machthaber und gefährliche Diktatoren beschrieben.

In einem Interview, das Sie im Juni dieses Jahres einer großen deutschen Wochenzeitschrift gegeben haben, haben Sie wiederum mit diesem unbestechlichen Blick für Wirklichkeiten formuliert: "Die Intellektuellen verstehen heute nicht, woher der Putinismus kommt, wer Lukaschenko ermöglicht. Aber das ist natürlich das Volk, die Bevölkerung. Die Intellektuellen träumen von einem Volk, das sich die Freiheit wünscht, aber das Volk interessiert sich mehr fürs Essen. Gesiegt hat die Freiheit seiner kleinbürgerlichen Majestät Konsum. Die meisten Leute möchten lieber Eigentümer als freie Menschen sein." Und Sie haben den ebenso erhellenden wie bitteren Satz hinzugefügt: "Die Freiheit lässt sich nicht wie Schweizer Schokolade importieren."

Und damit spätestens sind wir im Westen Europas angekommen, bei dem es sich, salopp formuliert, mit dem Gefühl der Freiheit so ähnlich verhält wie bei der Verfügungsgewalt über Schokolade. Je länger man sich sicher ist, dass man darüber verfügt, desto mehr bildet man sich ein, dass es sich hier um eine schiere Selbstverständlichkeit handele.

Ihre Bücher sind der mehrere tausend Seiten starke Beleg dafür, dass das alles aber keine Selbstverständlichkeit ist. Und dass wir alle eine Verantwortung dafür haben, wo immer wir leben, wo immer wir wirken, die ärgerliche Lücke mindestens kleiner zu machen, die zwischen den fragilen Gütern der Menschen und ihren oft noch fragileren Lebensverhältnissen bestehen.

Lieber Herr Honnefelder, die Geschichte des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels ist ja bei nüchterner Betrachtung leider auch stabiler als das Anliegen, das mit diesem Preis zum Ausdruck gebracht wird und das Sie aus guten Gründen heute Morgen noch einmal so adressiert haben. Aber umso mehr ist diese jährliche Preisverleihung nicht nur eine ständige gemeinsame Erinnerung an diese Güter, sondern eine Selbstverpflichtung für uns alle, die wir daran teilnehmen − und hoffentlich auch für viele andere, die an Fernsehgeräten oder durch Lektüre der gehaltenen Reden daran teilhaben −, uns für dieses Anliegen mit Kräften einzusetzen.

Verehrte Frau Alexijewitsch, wir verneigen uns vor dem bewundernswürdigen Engagement, das Sie über Jahre hinweg für dieses Anliegen möglich gemacht haben. Und wir beglückwünschen Sie für das zu Recht preisgekrönte literarische Schaffen, mit dem das zum Ausdruck kommt.

Vielen Dank."