Friedenspreisträgerin Swetlana Alexijewitsch in Leipzig

Exit/Voice

27. Februar 2015
von Börsenblatt
Wenige Tage nach der Friedenspreisverleihung eröffnete am 15. Oktober ein Abend mit Swetlana Alexijewitsch den 17. Leipziger literarischen Herbst. Die Stadt der Montagsdemos von 1989 empfing die weißrussische Autorin wie eine alte Vertraute. 

Der Festsaal des Alten Leipziger Rathauses ist Swetlana Alexijewitsch vertraut, 1998 erhielt sie hier den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. Und auch in der Stadt der friedlichen Revolution ist die frisch gekürte Friedenspreisträgerin für viele eine alte Vertraute. Helmut Stadeler etwa, Vorsitzender des Börsenvereins SaSaThü, der Alexijewitsch auf Russisch begrüßt, war 1987 nach Ostberlin gepilgert, um im "Palast der Republik" eine Inszenierung von "Der Krieg hat kein weibliches Gesicht" zu erleben − damals ein Vorbote von Glasnost und Perestroika.

Das Gespräch, das Stephan Detjen (Deutschlandradio) mit der weißrussischen Schriftstellerin führte, kreiste zunächst um deren ganz eigene Form emotionalisierter Geschichtsschreibung − den "Roman der Stimmen". Ausgeprägt hat sich Alexijewitschs Methode, einen Chorus ganz individueller Stimmen zu Collagen gelebten Alltags zu verdichten, bereits in der Kindheit: Wirklich erschüttert hatte sie da nicht die Flut Bücher über den "Großen Vaterländischen Krieg", sondern die Art und Weise, wie die Landbevölkerung den Schrecken dieses Krieges reflektierte. "Ich hatte ganze Regalmeter solcher heroischen Kriegsbücher gelesen; sie alle wogen danach nicht mehr als diese einfachen Erzählungen."

Gehen oder Bleiben, Ausreise oder das Erheben der Stimme, die Alternativen in einer Diktatur, die nüchterne Soziologen seit Albert O. Hirschman auf die Formel "Exit/Voice" bringen − auch dies ist vielen im Osten nur allzu vertraut. Trotz der Repressionen durch das Lukaschenko-Regime, in deren Folge Alexijewitsch für einige Jahre in Paris, Stockholm und Berlin Zuflucht suchte, war das Verlassen der Heimat für die Autorin nie eine definitive Option. "Die Bücher, die ich schreibe, kann ich nicht losgelöst von der Heimat schreiben. Ich bin auf die Sprache angewiesen, ich muss sie hören." Der Schauspieler Hans-Peter Hallwachs ließ den Chor der Stimmen so lebendig werden, dass man sich im altehrwürdigen Rathausfestsaal für Minuten wie in einer Kommunalka, einer russischen Gemeinschaftswohnung, oder dem Bahnhofswartesaal von Minsk vorkam. "Putin, der Demokrat − der kürzeste Witz." Vielleicht ist das Volk klüger als mancher deutsche Politiker? Aus Sicht der Schriftstellerin nimmt Putins Machtausübung immer mehr Lukaschenkosche Züge an. "Er ist jedoch gefährlicher."

Da Alexijewitschs Bücher seit der Machtergreifung des jetzigen Präsidenten Alexander Lukaschenko im Jahr 1994 in Weißrussland nicht mehr verlegt worden sind, kaufte sie mit dem Leipziger Preisgeld von 1998 russische Ausgaben ihres Tschernobyl-Buches und schmuggelte sie in die Heimat. Und welches Echo hat der Friedenspreis in Weißrussland ausgelöst? Die russische Ausgabe ihrer "Secondhand-Zeit" (Hanser Berlin) ist soeben erschienen, eine Übersetzung ins Weißrussische liegt zwar vor, doch haben sich mehrere Druckereien geweigert, das Buch zu drucken. "Die Zeit scheint stehengeblieben zu sein. Ich darf wieder in Minsk leben, aber man tut so, als gäbe es mich nicht. Die Bücher, die in viele Sprachen übersetzt wurden, die Preise, die ich erhalten habe, sind ein Schutz. Ich darf viel mehr sagen." Swetlana Alexijewitsch, die mutige Frau, die davon überzeugt ist, dass "die Barrikade ein gefährlicher Ort für Künstler" ist, hat sich dennoch entschieden: zu bleiben, die Stimmen zu belauschen, ihre eigene zu erheben. Ihr nächstes Buch, sagt sie, wird eines über die Liebe sein.