Goldene Nadel: Dankesrede von Joerg Pfuhl

"Wir brauchen Ihr Engagement!"

20. Juli 2015
von Börsenblatt
Joerg Pfuhl, Vorsitzender des Vorstands der Stiftung Lesen und ehemaliger Geschäftsführer der Verlagsgruppe Random House, ist gestern in Frankfurt mit der Goldenen Nadel des Börsenvereins geehrt worden. Seine Dankesrede geben wir hier im Wortlaut wieder:

Leser wachsen nicht auf Bäumen − oder: wir brauchen Ihr Engagement!

Die vor vier Wochen veröffentlichte PIAAC-Studie ("PISA für Erwachsene") macht erneut deutlich, wie es in Deutschland um die Lesekompetenz bestellt ist: unbefriedigend! Mehr als 15% der Erwachsenen haben eine geringere Lesekompetenz als Grundschulkinder, damit liegt Deutschland unterhalb des OECD-Durchschnitts. Damit wird außerdem nachdrücklich eine Studie der Universität Hamburg aus dem Jahr 2011 bestätigt, nach der 15% der Deutschen funktionale Analphabeten, d.h. nicht in der Lage sind, einfache Texte zu verstehen. Besonders frappierend ist in diesem Zusammenhang, dass 60% dieser Menschen in Deutschland aufgewachsen sind und viele von ihnen einen Schulabschluss haben. Sie haben schlichtweg das Lesen verlernt. Sicherlich gibt es viele unterschiedliche Gründe dafür, aber ein Grund ist symptomatisch: Sie haben keinen Zugang zum Lesen aus Freude gefunden. Und wir wissen aus zahlreichen Untersuchungen: Lesekompetenz und Lesefreude hängen eng zusammen.

Natürlich hat es eine gesellschaftliche Dimension, wenn 15% der Bevölkerung nicht lesefähig sind, und somit nur sehr eingeschränkt am politischen Leben und am Arbeitsleben teilhaben können, ganz abgesehen von den persönlichen Einschränkungen, die diese Menschen hinnehmen müssen.

Für unsere Branche gibt es aber auch eine wichtige wirtschaftliche Dimension: 25% der Deutschen lesen niemals ein Buch, weitere 16% nur selten. Das sind 40% der Bevölkerung, die für unsere Branche irrelevant sind. Letztlich kämpfen wir jeden Tag um die knapp 20% der Deutschen, die regelmäßig Bücher kaufen, Buchhandlungen aufsuchen, sich über Bücher informieren. Dabei stagniert die Zahl verkaufter Bücher seit langem, d.h. alle Bemühungen von Verlagen und Handel zielen auf Marktanteilsgewinne zu Lasten der Wettbewerber. Wie wäre es, wenn es uns gelänge, einen Teil der Nichtleser für das Lesen zurückzugewinnen?

Ein Traum? Ja, vielleicht, aber einer, für den es sich zu kämpfen lohnt. Bei der Stiftung Lesen ist das unser Alltagsgeschäft. Wir versuchen, Leseanlässe zu schaffen, um Lesefreude (wieder) zu wecken, und somit die Lesekompetenz zu steigern. Der Fokus unserer Arbeit liegt auf Kindern, denn die Weichen einer Lesebiografie werden in der Kindheit gestellt: Menschen, die nicht als Kinder die Freude des Lesens entdeckt haben, greifen als Erwachsene in der Regel nicht zum Buch. Aber auch Erwachsene spielen eine wichtige Rolle: Zum einen ist die Vorbildrolle der Eltern, und da insbesondere auch der Männer, für das Leseverhalten so wichtig, dass wir zahlreiche Projekte aufgesetzt haben, die das Vorlesen in den Mittelpunkt stellen (als Stichworte seien hier nur die bundesweiten Initiativen "Lesestart", "Mein Papa liest vor" sowie der gerade zum 10. Mal gefeierte "bundesweite Vorlesetag" genannt). Zum anderen dürfen wir nicht nachlassen, auch bei Erwachsenen die Lesefreude wieder zu wecken.

Ich möchte Ihnen in diesem Zusammenhang ein Projekt nahebringen, das seit 2011 von Großbritannien aus unter dem Titel "World Book Night" bekannt wurde. 2012 fand es erstmals in Deutschland statt, unterstützt von Börsenverein, Stiftung Lesen und zahlreichen weiteren Partnern. Die Idee ist einfach: "Lesefreunde", d.h. überzeugte Buchleser, schwärmen am Welttag des Buches aus, und verschenken Exemplare ihrer Lieblingsbücher an Nichtleser. Denn wer könnte besser Werbung für das Lesen machen als diese Lesefreunde?

Auf diesem Weg wurden im letzten Jahr in Deutschland von über 30.000 Buchschenkern 1 Million Bücher verschenkt, die die Lesefreunde in über 1.500 teilnehmenden Buchhandlungen und 2.400 Bibliotheken abgeholt hatten. Mit einer viralen Reichweite von über 180.000 Fans hatten wir die aktivste Facebook-Seite der Buchbranche, und konnten mit insgesamt 3.500 Print-/Online-/Hörfunk und TV-Veröffentlichungen eine Medienreichweite von 860 Millionen Kontakten erzielen − eine Verfünfzehnfachung gegenüber 2011!

Dank der Unterstützung der Deutschen Post und der Verlagsgruppen Aufbau, Bonnier, Holtzbrinck und Random House werden wir diese Aktion 2014 fortsetzen. Sie soll nachhaltig den Welttag des Buches in das Bewusstsein bringen und den Ursprung des Welttaggedankens unterstreichen: Schenk ein Buch! Denn in Katalonien, wo der von der UNESCO vor 18 Jahren ausgerufene Welttag des Buches seinen Anfang nahm und bereits seit Jahrzehnten als Fest des Buches gefeiert wird, ist die Tradition des Buchgeschenks am 23. April fest etabliert. Und so werden dort Bücher und Autoren nicht nur auf zahlreichen Bühnen gefeiert, sondern Buchhandel und Verlage freuen sich über Umsätze auf Höhe des Weihnachtsgeschäfts. Zugegeben, die Katalanen haben dazu 80 Jahre gebraucht, aber dank der guten Vorlagen und mit gemeinsamen Kräften sollte uns das deutlich schneller gelingen.

Was können Sie tun?

1) Als Verlag:

Wir werden die Titelliste der Welttagsaktion 2014 bis Anfang Dezember abschliessen. Noch können Sie also mitmachen. Wir streben wiederum eine möglichst vielfältige Titelauswahl an, um auch jeden Lesefreund zu erreichen.

Ausserdem planen wir für 2014 eine möglichst hohe Autorenbeteiligung. Nach dem Vorbild der avj, deren Mitgliedsverlage bereits seit mehreren Jahren ihre Autoren ansprechen, um am Welttag unentgeltlich in ihrem Wohnort aufzutreten, wollen wir dies auch auf Publikumsverlage ausweiten. Die Auftritte der Autoren finden in Buchhandlungen statt. Dies führt zu einer großen medialen Aufmerksamkeit, und kann sowohl lokal als auch bei hoher Beteiligung in bundesweiten Medien für die Pressearbeit für den Welttag genutzt werden.

2) Als Buchhändler:

Registrieren Sie sich wieder als Abholort, denn ganz bewusst schicken wir die Lesefreunde ja in den Buchhandel. Und nutzen Sie diese Chance: für Veröffentlichungen in der Lokalpresse, durch Einbindung der hoch motivierten Lesefreunde und durch besondere Präsentation der Welttagstitel und Autoren. In UK konnte eine deutliche Steigerung des Absatzes der Welttagstitel festgestellt werden, da viele Leser die Liste als eine Art Empfehlungsliste verstanden und weitere Welttagstitel nachkauften.

3) Als Unterstützer:

Und wenn Sie dann noch Begeisterung übrig haben, freuen wir uns natürlich auch immer über finanzielle Unterstützung, denn das ist nach wie vor die größte Herausforderung, mit der wir kämpfen. Dabei hilft uns jeder Euro.

Fazit:

Unser Ziel besteht nicht darin, Bücher zu verschenken. Das wäre zu kurz gesprungen. Wir wollen Werbung für das Lesen machen (daher auch die Einbindung in die Kampagne "Vorsicht Buch" unter der Überschrift: Schenk ein Buch!), und wir wollen den Welttag des Buches am 23. April jeden Jahres fest als Geschenkanlass etablieren. Dabei sind die Buchschenker die besten Botschafter für das Lesen, die wir uns wünschen können.

Ich kann nur an Sie appellieren: Machen Sie mit, damit wir endlich das Potential nutzen, das der Welttag uns bietet!

 

Joerg Pfuhl
joerg.pfuhl@stiftunglesen.de