Sachbücher: Biografien

Die Faszination menschlicher Abgründe

20. Juli 2015
von Börsenblatt
Biografien sind bei Buchhändlern wie bei Lesern unverändert populär. Viele Novitäten werten bislang unbekanntes Quellenmaterial aus und zeichnen ein neues, etwas anderes Lebensbild von Dichtern, Komponisten, Malern und Politikern.
 Lebensgeschichten berühmter Persönlichkeiten faszinieren bis heute und sind bei Buchkäufern beliebt – und zwar aus ganz unterschiedlichen Motiven. Dazu gehören die Nähe zum Verehrten, reine Neugier, die Suche nach einem Erfolgsrezept für das eigene Leben, vielleicht auch die unterschwellige Anziehungskraft menschlicher Abgründe.
Ein Blick auf die Top 25 der Sachbuch-Bestsellerliste zeigt zwei prominente Bei­spiele für faszinierende Lebensgeschichten: die große Goethe-Biografie von Rüdiger Safranski ­(»Goethe – Kunstwerk des Lebens«, Carl Hanser, 752 S., 27,90 Euro; als E-Book 20,99 Euro) und Iris Radischs Biografie zu Albert Camus’ 100. Geburtstag (»Camus. Das ­Ideal der Einfachheit«, Rowohlt, 352 S., 19,95 Euro; als E-Book 16,99 Euro). Safranskis Darstellung setzt Maßstäbe, indem sie die Vita des Dichterfürsten aus Briefen, Tagebüchern, Werken und zeitgenössischen Quellen rekonstruiert. Am Ende wird das Gesamtkunstwerk Goethe sichtbar, das die Trennlinie zwischen Leben und künstlerischem Schaffen überwindet.
Goethe ist ein nahezu unerschöpfliches Thema für Biografen. Neben den großen Gesamtdarstellungen gibt es kleinere Ausgaben, die sich auf das Wesentliche konzentrieren, wie der von dem Müns­teraner Germanisten Ernst Ribbat verfasste Band »Goethe« (erschienen im Warendorfer Verlag Schnell,  in der Reihe »Biografien für Liebhaber«, 88 S., 12,80 Euro).
Dichter und ihre Beziehungen

Den Amouren Goethes sind viele Monografien gewidmet, die sich mit den Episoden und den durch sie inspirierten Werken beschäftigen. Der Literaturwissenschaftler Helmut Koopmann hat sich die Liaison zwischen Johann Wolfgang Goethe und der elsässischen Pfarrerstochter Friederike Brion vorgenommen, die Goethe als Straßburger Jurastudent 1770 kennenlernte. In dem bei C. H. Beck für März 2014 angekündigten Band »Willkomm und Abschied« untersucht Koopmann, wie sich die von Goethe beendete Beziehung auf sein Schreiben auswirkte. In den »Seesenheimer Liedern« wählte Goethe eine poeti­sche Sprache, wie man sie vorher nicht von ihm kannte. Das berühmteste dieser Gedichte gab dem Buch seinen Titel.
Während das Leben des Olympiers weitgehend ausgeleuchtet ist, ranken sich um viele Schriftsteller des 20. Jahrhunderts Mythen. Eine enigmatische Gestalt der deutschen Dichtung war die vor 40 Jahren gestorbene Ingeborg Bachmann. Weil sie viele bisher unbekannte Dokumente aus Bachmanns Nachlass – etwa aus der Familienkorres­pondenz – einsehen konnte, wirft Andrea Stolls Biografie »Ingeborg Bachmann. Der dunkle Glanz der Freiheit« ein neues Licht auf die Dichterin (C. Bertelsmann, 384 S., 22,99 Euro; als E-Book 18,99 Euro). Wie schon bei Goethe, widmet sich auch ein bei Piper verlegter Band einer Beziehung – Ingeborg Bachmanns Liebe zu Max Frisch (Ingeborg Gleichauf, »Ingeborg Bachmann und Max Frisch. Eine Liebe zwischen Intimität und Öffentlichkeit« (224 S., 19,99 Euro; als E-Book 15,99 Euro).
Musikgenies und ihre Abgründe

Die Viten großer Komponisten sind ebenfalls ein reicher Fundus für ­Biografen. Neben jubiläumsbezogenen Titeln finden sich immer wieder Bücher, die historische Künstlerpersönlichkeiten in ein neues Licht rücken. So versucht Eva Gesine Baur in ihrer für Mai 2014 angekündigten Biografie, die Abgründe des »göttlichen« Mozart auszuleuchten – zwischen Genie, Eros und dämonischem Getriebensein (»Mozart. Genius und Eros.« C. H. Beck, ca. 496 S., ca. 24,95 Euro). Mit bedeutenden Opernkomponisten beschäftigen sich zwei weitere Biografien aus dem Frühjahrsprogramm von C. H. Beck: Der eine ist Richard Strauss. Am 11. Juni 2014 wäre er 150 Jahre alt ge­worden (Bryan Gilliam: »Richard Strauss. Magier der Töne«, ca. 256 S., ca. 19,95 Euro). Die zweite Novität beschäftigt sich mit Giacomo Meyerbeer. Anlass ist hier der 150. Todestag am 2. Mai 2014 ­(Sabine Henze-Döhring, Sieghart Döhring: »Giacomo Meyerbeer. Der Meister der Grand Opéra«, ca. 256 S., ca. 21,95 Euro).
Eine ganze Komponistenfamilie über mehrere Generationen hinweg stellt Klaus-Rüdiger Mai in seinem bei Propyläen verlegten Buch »Die Bachs. Eine deutsche Familie« vor (448 S., 26,99 Euro; als E-Book 20,99 Euro). Johann Sebastian Bach, dessen Werke viele für den Höhepunkt der neuzeitlichen Musikgeschichte halten, erscheint darin als das Zentralgestirn, um das sich Vor- und Nachfahren, aber auch Vertreter anderer Bach-Linien gruppieren. Insgesamt werden etwa 30 verschiedene Bachs, darunter Carl Philipp Emanuel und Johann Chris­tian Bach, präsentiert. Mais Familienbio­grafie setzt ein mit Veit Bach, der im späten 16. Jahrhundert als ­verfolgter Lutheraner aus Ungarn fliehen musste und sich in Thüringen niederließ (in Wechmar steht heute noch das Stammhaus der ­Familie Bach) – und sie folgt den Nachkommen bis ins 19. Jahrhundert hinein.
Maler und ihre blinden Flecken

Lebensläufe von Malern sind immer dann gefragt, wenn große Ausstellungen ihre Schatten vorauswerfen. Das ist beispielsweise bei dem Expressionisten Emil Nolde der Fall, dem das Frankfurter Städel Museum vom 5. März bis zum 15. Juni 2014 eine große Retrospektive widmet. Bereits im September ist bei Propyläen die nach Angaben des Verlags »erste große Nolde-Biografie« von Kirsten Jüngling erschienen (»Emil Nolde. Die Farben sind meine Noten«, 352 S., 22,99 Euro; als E-Book 19,99 Euro). Darin schildert die Autorin auch den Zwiespalt, in dem sich Nolde während der NS-Zeit befand: Einerseits war er ein glühender Anhänger der nationalsozialistischen Weltanschauung, andererseits wurden seine Bilder als »entartete Kunst« abgestempelt, und er selbst 1941 mit einem Malverbot belegt. Das verhalf ihm nach dem Krieg zu ­breiter Anerkennung – während die NS-Bewunderung ausgeblendet wurde.
Bei Reclam ist im Herbst die Bio­grafie eines weiteren Malers erschienen, der ebenfalls von den Nazis als »entartet« geächtet wurde: »Otto Dix. Der unerschrockene Blick« (280 S., 22,95 Euro; als E-Book 19,99 Euro). Der Kunsthistoriker Olaf Peters hat für seine Darstellung neueste Forschungsergebnisse, zeitgenössische Quellen sowie Dokumente aus dem privaten Nachlass des Künstlers ausgewertet. Dix, der sich im Laufe seines Künstlerlebens verschiedenen Stilrichtungen öffnete, bleibt auch als Maler des Grauens in Erinnerung: Seine Zeichnungen und Gouachen von den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs sind gerade jetzt, im bevorstehenden 100. Jahr nach Beginn der »Urkatastrophe«, unvergessen.
Weitere erwähnenswerte Maler-Biografien sind die bei Reclam erschienene Darstellung »Edvard Munch. Tanz des Lebens« des Stuttgarter Kunsthistorikers Hans Dieter Huber (198 S., 19,95 Euro) und das für Februar bei Seemann Henschel angekündigte Buch »Gauguin und seine Zeit« von Eckhard Hollmann (ca. 144 S., 29,95 Euro).
Herrscher und ihre Präsenz

Das Wirken von Herrschern und Politikern bietet den Biografen ein weites Feld. Neben Büchern, die zum 2 000. Todestag von Kaiser Octavianus Augustus erscheinen, erinnern zwei Biografien bei Piper und C. H. Beck an Karl den Großen, der vor 1 200 Jahren, am 28. Januar 814, starb.
Aber auch die jüngere Zeitgeschichte rückt in den Fokus: Neben der Fülle an Publikationen zu Willy Brandts 100. Geburtstag (siehe Börsenblatt 45 / 2013) sind besondere Einzeltitel hervorzuheben, wie Joachim Radkaus neue Biografie über den ersten Präsidenten der Bundesrepublik, Theodor Heuss, dessen Todestag sich am 12. Dezember zum 50. Mal jährte (»Theodor Heuss«, Carl Hanser, 512 S., 27,90 Euro). Radkau porträtiert Heuss anhand bisher unbekannter Zeugnisse als moderne, künstlerisch interessierte und politisch ambitionierte Persönlichkeit. Die Reha-FDP des Winters 2013 könnte sich davon einige Scheiben abschneiden.
Ebenfalls eine maßgebliche Persönlichkeit der alten wie der neuen Bundesrepublik ist ein Denker, auf den nicht alle Politiker hören: Jürgen Habermas. Ihn würdigt eine neue Biografie von Stefan Müller-Doohm bei Suhrkamp (»Jürgen ­Habermas«, Juni 2014, ca. 600 S., ca. 24,95 Euro).