Der Kampf um die Top Level Domains

Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei ".book"

16. Juli 2015
von Börsenblatt
Was derzeit hinter den Kulissen der Netzverwaltung geschieht, ist die Aufteilung der Marktsphären von morgen. Die Domainnamen, um deren Besitz Riesen wie Amazon jetzt ringen, zeugen vom Geist digitaler Landnehmer. Ein Beitrag von Börsenblatt-Redakteur Michael Roesler-Graichen.

Schauplatz Antarktis: Großmächte und Anrainerstaaten stecken ihre Interessensphären ab, um sich Rohstoff­re­serven für morgen zu sichern. Das ist in den entlegenen Gebieten ein meist geräuschloser Prozess, in dicht besiedelten Erdregionen wie den Staaten am Ostchinesischen Meer kann das geopolitische Konflikte heraufbeschwören.

Nicht wesentlich anders geht es zu bei der Eroberung des virtuellen Kontinents im Internet. Dort versuchen vor allem große Internetkonzerne wie Amazon, sich beliebte Top Level Domains, die die Internetverwaltung ICANN (Internet Corporation of Assigned Names and Numbers) vergibt, zu sichern. Auf diese Weise wollen sie in bestimmten Märkten eine beherrschende Stellung ausbauen oder den Ausbau beschleunigen. Ob dies angestammten Marktteilnehmern gefällt oder nicht.

Doch welche Mentalität verbirgt sich hinter der Strategie? Und woran erinnert dieses expansive Streben vor allem amerikanischer Internetunternehmen nach Vorherrschaft im Netz? Wiederholen sich da womöglich Muster aus der Siedlerzeit – als Einwanderer in Richtung »Frontier«, in die offene Zone im Westen des Kontinents aufbrachen, um Land zu nehmen auf Territorien, die der indigenen Bevölkerung gehörten? Das "Frontier" genannte Grenzland wurde dabei immer weiter nach Westen verschoben, und die Indianer, die dahinter lebten, wurden getötet oder verdrängt. Der amerikanische Historiker Frederick Jackson Turner vertrat in seinem 1893 erschienenen Buch "The Frontier in American History" die These, dass diese Grenzerfahrung den Charakter der Amerikaner in besonderer Weise geprägt habe – im Sinne eines Freiheitsgefühls und einer Unbekümmertheit, die die Regeln der "alten" Welt hinter sich ließ.

Der Pioniergeist der "Frontier"-Bewegung wird bis in die Gegenwart beschworen – ob beim Start des Raumfahrtprogramms in den 1960er Jahren oder angesichts des Internets, das ein ähnliches Freiheitsversprechen wie zu Siedlerzeiten bereithält. Nur dass dieses Mal die Grenze in den virtuellen digitalen Raum verschoben wird.

Es ist kein Zufall, dass die Internetgiganten Amazon, Apple, Facebook und Google, die zum Teil auch den Buchmarkt revolutionieren (wollen), ihren Sitz im äußersten Westen der USA haben – dort, wo einst die letzten Siedler an eine natürliche Grenze stießen und wo sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Silicon Valley entwickelte. Von dort hat die Besiedlung des virtuellen Kontinents ihren Ausgang genommen. Sie wiederholt Muster der historischen Landnahme.

Der "Frontier"-Spirit beseelt auch Amazon-Gründer Jeff Bezos, der sich nicht damit begnügt, Händler zu sein, sondern sich und sein Team dazu treibt, den Rahmen des eigenen Tuns immer wieder zu sprengen, um in andere Geschäftsfelder vorzudringen. Bezos steht für den Typ Eroberer auf dem virtuellen Kontinent, der eine vorgefundene Handelskultur durch eigene, beweglichere und "modernere" Geschäftsmodelle ersetzen will.

Der Prozess der digitalen Landnahme begann mit der Zeichnung einer "mentalen Landkarte", die die Vision des Unternehmens entwarf – bei Amazon also den "everything store", der im globalen Maßstab mit allen Medien und möglichst allen anderen Waren handelt, der selbst Medien produziert (Bücher, Filme etc.) und vertreibt, der Cloud Services anbietet, der Tageszeitungen übernimmt ... Brad Stone hat dies in seinem Buch "Der Allesverkäufer" (Campus) sehr eindrücklich geschildert.

Die digitale Landnahme ignoriert von vornherein die Interessen der ansässigen, nativen Industrien. Sofern sie als Lieferanten (für Bücher) infrage kommen, werden sie als Handelspartner gebraucht. Angestammte Rechte und Strukturen, die der eigenen Agenda zuwiderlaufen, werden miss­achtet oder gering geschätzt (wobei der gesetzliche Rahmen meist respektiert wird).

Schon die Mentalitäten der Er­oberer und der klassischen Akteure – im Buchhandel also Verleger und Sortimenter – lassen sich kaum in Einklang bringen. Amazon-Mitarbeiter aus der "alten" Welt, zuletzt der Literaturagent Larry Kirshbaum, der Amazon Publishing aufbauen sollte, kehrten dem Konzern bald den Rücken.

Der nächste Schritt der digitalen Landnahme ist die Besetzung von Namen. Mit Namen werden Ansprüche, "Claims" angemeldet, die Macht und Einfluss in bestimmten Geschäftsbereichen sichern sollen. Wer im Web über die neuen generischen Top Level Domains verfügt, hat einen deutlichen Vorsprung gegenüber den Wettbewerbern. Unter den mehr als 1 000 "generischen", also von natürlichen Begriffen abgeleiteten Domainnamen ist auch die hart umkämpfte Top Level Domain ".book". Diesen Namen würde Amazon gern meistbietend erwerben und in das "digitale Grundbuch" der ICANN eintragen lassen.

Eine solche Domain hätte eine Symbolkraft, deren Wirkung nicht nur im Online-Handel, sondern auch darüber hinaus ungeheuer wäre. Webseiten wie Amazon.book oder Kindle.book würden zum Synonym für Bücher und E-Books im Netz. Suchanfragen nach Büchern über Google, selbst Mitbewerber bei der ICANN, würden neben Google Books in erster Linie auf den neuen Domains von Amazon landen. Doch noch ist nicht ausgemacht, ob das ICANN-Board der gewünschten Domainvergabe zustimmt: Denn es gibt acht weitere Mitbewerber – unter ihnen wie gesagt auch Google.

Mit ».book« allein will sich Amazon aber nicht begnügen. Das Unternehmen reklamiert für sich auch weitere generische Begriffe wie ".author", ".read", ".mobile" oder ".video" – wenn man so will, das gesamte Begriffsnetz, das sich um Buch, Buchhandel und Medienindustrie spannen lässt.

Das ICANN und seine Gremien entwerfen derzeit in Absprache mit Unternehmen, Regierungen und anderen Institutionen einen Atlas der digitalen Welt, in dem Grenzen festgelegt werden, innerhalb derer Konzerne operieren. Das ist ein Vorgang, der an die Aufteilung der südlichen Hemisphäre zwischen den Conquista-Reichen Spanien und Portugal im Jahr 1494 – zwei Jahre nach der Entdeckung »Amerikas« – erinnert. Damals teilte man im Vertrag von Tordesillas die Einflusssphären auf, indem man den Längengrad 46° 37’ West als Grenze zwischen beiden Mächten zog. Einen fundamentalen Unterschied zwischen der physischen und der digitalen Welt gibt es allerdings: Im Netz werden neue Begriffswelten mit virtuellen Ländereien und Provinzen erfunden, die im Gegensatz zur wirklichen Welt erst Gestalt annehmen müssen.

Eine ironische Pointe der Geschichte ist, dass ausgerechnet Amazon einen Namen gewählt hat, der geografisch (und mythologisch) besetzt ist. Als Amazon im vergangenen Jahr seine Bewerbung für die ebenfalls ausgeschriebene Top Level Domain ".amazon" einreichte, zog das Internetunternehmen den Zorn der Amazonas-Anrainer auf sich: Brasilien und Peru protes­tierten beim Government Advisory Committee (GAC), das bei der ICANN Regierungsinteressen vertritt, gegen die kommerzielle Nutzung einer geografischen Domain, auf die sie eigene Ansprüche haben. Jetzt soll ein Gutachten klären, welche Gründe für oder gegen eine Bewerbung Amazons sprechen. Eine endgültige Entscheidung steht noch aus.

Eine weitere Phase der digitalen Conquista, die mehr oder weniger geordnet schon längst im Gang ist, betrifft die Eroberung der abgesteckten Märkte, die tendenziell mit einer Verdrängung traditioneller Konzepte verbunden ist. Für die Buchindustrie heißt dies: Amazon stülpt seine Geschäftsmodelle über den Buch- und Einzelhandel und versucht, mithilfe seiner elektronischen Geräte (Kindle & Co.), mithilfe von Vorteilsprogrammen (Prime), mit "vorauseilenden Lieferungen" (anticipatory delivery) und nun auch den Amazon Coins, die eine indianerähnliche, den Bogen spannende Amazone ziert, an seine "neue" Welt zu binden.

Dass dies langfristig mit einer Extinktion der vielfältigen, über Jahrhunderte gewachsenen Handelsstruktur samt ihrer physisch-architektonischen Repräsentation (Läden, Kaufhäuser, Einkaufscenter) und samt ihren Beschäftigungsverhältnissen verbunden sein kann, bekümmert bei Amazon niemanden. Der unabhängige Buchhandel sollte sich wappnen und sich nicht mit der Aussicht trösten, künftig nur noch eine Art Reservat-Dasein zu fristen.