Deutscher Jugendliteraturpreis 2014

Hanser, Carlsen, Fischer und Moritz sahnen ab

6. Juli 2015
von Börsenblatt
Gina Weinkauff, Vorsitzende der Kritikerjury, und Vertreter der Jugendjury haben heute auf der Leipziger Buchmesse die 30 Nominierungen zum Deutschen Jugendliteraturpreis 2014 bekannt gegeben: Besonders glückliche Gesichter gab es bei Hanser, Carlsen, Fischer (je 4 Titel) und Moritz (drei Titel).
"Die interessantesten Werke findet man oft in Grenzregionen – zwischen faktualer und fiktionaler Literatur, zwischen Bildgeschichte und Roman, zwischen Jugendliteratur und allgemeiner Literatur" verriet die Vorsitzende der Kritikerjury, Gina Weinkauff. Diese Grenzgänger finden sich auch in der aktuellen Nominierungsliste. "Sie versammelt Titel, die die Formensprache der Kinder- und Jugendliteratur bereichern und die die Veränderungen der Welt, in der die Adressaten der Bücher leben, literarisch überzeugend spiegeln. Darum haben sie auch das Potenzial, den literarischen Erfahrungshorizont von Kindern und Jugendlichen zu erweitern und ihnen neue Perspektiven auf die Wirklichkeit zu ermöglichen“, so die Juryvorsitzende in Leipzig.

Insgesamt 600 Titel hatten die neun Mitglieder der Kritikerjury geprüft und in den Kategorien Bilderbuch, Kinderbuch, Jugendbuch und Sachbuch je sechs nominiert. Insgesamt sechs Titel hat die unabhängige Jugendjury nominiert.

Die Preisträger in jeder Sparte werden am 10. Oktober von Bundesjugendministerin Manuela Schwesig auf der Frankfurter Buchmesse verkündet. Stifter des Preises ist das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.

Sparte Bilderbuch:
Jimi Lee
Überall Linien
Michael Neugebauer Edition
14,95 Euro, ab 3

Begründung der Jury: Dieses überaus sorgfältig und fast puristisch gestaltete textlose Pappbilderbuch regt an zum Wahrnehmen und Begreifen eines eigentlich ziemlich abstrakten geometrischen Phänomens: der Linie. Aus den zahlreichen Lochpappen, die in der Nachfolge von Eric Carles unverwüstlicher „Raupe Nimmersatt“ erschienen sind, ragt das Werk durch seine ungewöhnlich klare Ästhetik hervor – die abgebildeten Dinge und Figuren stehen vor einem weißen Hintergrund, es gibt keine Narrativierung, nur eine visuelle Folge, deren eigentliches Zentrum, oder besser gesagt: deren Zentralachse als Aussparung in Szene gesetzt worden ist.

Auch die Qualität des Drucks verdient ein Lob, denn sie lässt zum Beispiel die Materialität der für die Collagen verwendeten Papiere gut erkennen. Eine Einladung zum Sehen und zum Benennen des Gesehenen für Kleinkinder und ihre Erwachsenen.

Sparte Bilderbuch:
Gus Gordon
Herman und Rosie. Eine Geschichte über die Freundschaft
Aus dem Englischen von Gundula Müller-Wallraf
Knesebeck Verlag
14,95 Euro, ab 5

Begründung der Jury: Herman und Rosie leben als Nachbarn und Seelenverwandte in New York. Er spielt Oboe, sie ist Jazzsängerin, beide lieben Hotdogs und die Filme von Jacques Cousteau. Bevor sie einander entdecken, das alltägliche Einerlei von Anonymität und Entfremdung durchbrechen und mit der Verwirklichung ihres gemeinsamen Lebenstraums beginnen, bedarf es einiger scheinbarer Katastrophen und glücklicher Zufälle. Gus Gordon arbeitet nach eigenem Bekunden "for small people and older people who like small people´s books"– hier haben wir es mit einer Geschichte aus dem Erfahrungsraum der older people zu tun, die jedoch überaus gekonnt Erzählweisen und Motive des small-people`s-picture-book-story-telling verwendet und auf diese Weise altersübergreifend unterhält. Ein Bilderbuch mit Herz und Ironie, wunderbar gezeichneten anthropomorphisierten Tierfiguren, intertextuellen Anspielungen und verspielten Collage-Elementen, die auch beim wiederholten Betrachten noch vergnügliche Entdeckungen offerieren.

Sparte Bilderbuch:
Delphine Bournay
Krümel und Pfefferminz. Wilde Tiere
Aus dem Französischen von Julia Süßbrich
Hanser
7,90 Euro, ab 5

Begründung der Jury: Die Cartoons um Krümel und Pfefferminz – Grignotin und Mentalo – bieten Typenkomik mit philosophischem Tiefgang. Stets ist der Frosch den anderen Tieren eine Nasenlänge voraus und fast immer bezieht er seine Überlegenheit aus Büchern. Diese regen ihn an zu zunehmend manischen Projekten, die durchaus katastrophal enden könnten, es aber nicht tun, weil der Hase und die übrigen Tiere passiven Widerstand leisten und der Frosch am Ende doch vor der Verwirklichung seiner absurden Phantasien zurückschreckt.

Die Geschichte wird komplett szenisch erzählt, der Text enthält also ausschließlich Dialoge, die Schriftfarbe entspricht jeweils der Farbe der Figur und eine Taschenbuchseite umfasst maximal drei ungerahmte Panels. Innerhalb der Reihe ragt der nominierte Band durch seinen abgründigen Humor, die Präzision der Bildsprache und die Seitengestaltung heraus.

Sparte Bilderbuch:
Claude K. Dubois
Akim rennt
Aus dem Französischen von Tobias Scheffel
Moritz Verlag
12,95 Euro, ab 7

Begründung der Jury: Als der Krieg eines Nachmittags in Akims Dorf einbricht, ist mit einem Schlag nichts mehr, wie es vorher war. Die Bewohner fliehen aus den Trümmern ihrer Häuser, der kleine Junge wird von seiner Familie getrennt, er gerät in Gefangenschaft, kann erneut fliehen und findet sich schließlich in der fragilen Sicherheit eines Flüchtlingslagers wieder. Die Form dieser Erzählung ist angemessen zurückhaltend, der Text berichtet, vermeidet Erklärungsversuche, während die Schwarzweiß-Zeichnungen das von Akim erlebte Grauen in Bilder fassen, wie sie auch im Skizzenbuch eines der Flüchtenden hätten stehen können.

Der sachlich berichtende Text gibt dem Buch den Rhythmus vor, die Bilder nehmen den Faden auf und führen ihn  (textlos) weiter, bis zur nächsten Unterbrechung durch eine Textpassage. Auf diese Weise werden die Betrachter vom verstörenden Inhalt des Buches nicht emotional überrumpelt, sondern erhalten die Gelegenheit, sich langsam empathisch anzunähern. Dazu passt auch das versöhnliche Ende der Geschichte, das Akim im Flüchtlingslager seine Mutter finden läss

Sparte Bilderbuch:
Regina Kehn (Hrsg., Illustration)
Das literarische Kaleidoskop

Fischer KJB
16,99 Euro, ab 8

Begründung der Jury: Dieses kleine literarische Hausbuch präsentiert eine exquisite Auswahl von Gedichten und kurzen Prosatexten im Spannungsfeld von James Krüss und Franz Kafka. Die Auswahl wird durch den Nonsense und das Absurde geprägt, also durch Formen und Strömungen, die im kinderliterarischen Kontext verschiedentlich schon Beachtung fanden, zuvörderst in den berühmten Anthologien von James Krüss.

Das Besondere an dieser Sammlung liegt in der Verbindung von Auswahl und visueller Form. Insbesondere die Gestaltung der Schrift schafft neue Zugänge zu den Texten, sie verlangsamt die Lektüre und lenkt die Aufmerksamkeit der Leser auf Rhythmus und Klang, aber auch auf die Bilder, die den Texten immanent sind. Das Büchlein vermittelt vielfältige literarische Erfahrungen, aber auch Wissen und Reflexion. Im Anhang finden sich nicht nur Kurzviten der Autorinnen und Autoren mitsamt gezeichnetem Porträt, man kann dort auch sämtliche Texte in herkömmlicher Typographie und ohne Illustrationen nachlesen.

Sparte Bilderbuch:
Peter Sís
Die Konferenz der Vögel

Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit
Aladin
24,90 Euro, ab 8

Begründung der Jury: "Die Liebe liebt das Schwierige / Wir sind unterwegs“. Peter Sís hat ein aus dem 12. Jahrhundert stammendes Versepos des persischen Sufi-Mystikers Farid ud-Din Attar in eine ebenso opulente wie vielschichtige visuelle Erzählung verwandelt. Auch in dieser Form ist die tiefgründige Erzählung um den Dichter-Propheten, der die zaudernden Vögel auf eine beschwerliche Reise zu sich selbst führt, keine leichte Kost. Peter Sís, der sich dem Stoff auf dem Umweg über Borges phantastische Artenlehre, Das Buch der imaginären Wesen (Libro de los seres imaginarios), genähert und überdies Impulse aus Peter Brooks auf dem Epos gründenden Theaterstück aufgenommen hat, vereinfacht nicht. Seine symbolhafte Bildsprache schafft aber Zugänge, die auch kindlichen Betrachtern offen stehen. Ein Bilderbuch mit einem weiten Adressatenentwurf, voller Rätsel und mit viel Raum zur Imagination und zum Nachdenken.

Sparte Kinderbuch:
Christian Oster (Text), Katja Gehrmann (Illustration)
Besuch beim Hasen

Aus dem Französischen von Tobias Scheffel
Moritz Verlag
9,95 Euro, ab 5

Begründung der Jury:  Die von Katja Gehrmann kongenial ins Bild gesetzte Geschichte bietet eine originelle Variante des Märchens vom Hasen und dem Igel: Der Hase hat sein neues Heim ebenso behaglich wie repräsentativ ausgestattet und wartet nun auf Besucher. Leider ist es keiner der Nachbarn, der das erste Mal die hübsche Türglocke betätigt, sondern der Fuchs, und der lässt keinen Zweifel daran, dass er den ihm kredenzten Karottencocktail aus der Hausbar nur als Apéritif betrachtet ...

Die Geschichte lebt vom komischen Kontrast zwischen Sprache und Inhalt: In wohlgesetzten Worten wird uns hier vom Fressen-und-Gefressenwerden erzählt und die Figuren wahren auch in den dramatischsten Situationen einen bürgerlich-gepflegten Umgangston, den Tobias Scheffel in seiner Übersetzung hervorragend getroffen hat. Ein strukturell einfacher Text, der es sprachlich und literarisch in sich hat.

Sparte Kinderbuch:
Sabine Wilharm (Illustration)
Der beste Tag aller Zeiten. Weitgereiste Gedichte
Aus dem Englischen von Henning Ahrens und Claas Kazzer
Carlsen
24,90 Euro, ab 6

Begründung der Jury:  Von Tieren und Telefanten, Wunder und andere sehr stille Angelegenheiten, Vom Lieben und Sehen und Lassen, Das Glück, das Unglück und die sieben Meter dazwischen, Gedichte über fast jeden – die Kapitelüberschriften dieser Kindergedichtanthologie versprechen nicht zu viel, wer sie durchblättert sieht sich in eine sehr weite Welt versetzt – voll mit Nonsense und Sprachspiel, philosophischem Hintersinn, Sinnlichkeit und Emotionalität. Neben einigen Klassikern der englischen und amerikanischen Kinderlyrik begegnen wir Autoren aus dem gesamten anglophonen Sprachraum, also auch aus Afrika, Indien, Neuseeland, Jamaika und vielen anderen Ländern.

Gemeinsam mit Henning Ahrens und Claas Kazzer, die fast alle Gedichte der Sammlung übersetzt haben, hat Susan Kreller hier einen großen und lange verborgen gewesenen Schatz gehoben. Von der Qualität der Übersetzungen kann sich jeder Leser selbst ein Bild machen, denn die Texte sind auch im Original wiedergegeben.

Sparte Kinderbuch:
Tamara Bos (Text), Annemarie van Haeringen (Illustration)
Papa, hörst du mich?
Aus dem Niederländischen von Ita Maria Berger
Verlag Freies Geistesleben
13,90 Euro, ab 7

Begründung der Jury:  "Ich finde es schön, mit dir zu reden.
Auch wenn du nichts mehr zurücksagst.
Ich rede weiter mit dir.
Um dir zu erzählen, was so passiert.
Und was alles passiert ist.
Denn du bleibst immer mein Papa.
Und ich weiß, dass du mich hörst.“ (S. 39)

Polle spricht zu seinem sterbenden Vater, auch, wenn der ihm nicht auf die übliche Art antworten kann. Als er hört, der Vater ist nicht mehr, geht das Gespräch trotzdem weiter, auf der verbalen und auf der piktoralen Ebene, denn dort agieren blaue und rote Strategofiguren, zeigen symbolisch, was dem Vater geschieht. Nicht zuletzt aufgrund dieser überzeugenden Visualisierung ragt die anrührende Geschichte von Trauer und Trost unter den Kinderbüchern zum Thema Tod heraus.

Sparte Kinderbuch:
Polly Horvath (Text), Sophie Blackall (Illustration)
Herr und Frau Hase. Die Superdetektive
Aus dem Englischen von Christiane Buchner
Aladin
12,90 Euro, ab 9

Begründung der Jury: Mit ihren Hippie-Eltern hat es die fleißige Marlene schon schwer genug, da tritt auch noch die organisierte Kriminalität auf den Plan und Marlenes ohnehin schon komplizierte Welt öffnet sich ins Fantastische. Immerhin wird ihr auf diese Weise in Gestalt von Frau Hase und ihrem Ehemann wirksame Unterstützung zuteil und am Ende ist nicht nur der Kriminalfall gelöst, sondern Marlene kommt auch noch in den Besitz der begehrten weißen Schuhe für die Schulabschlussfeier mit Prinz Charles.

Polly Horvath hat hier einen überaus vielschichtigen fantastischen Kinderroman vorgelegt, der kräftig von ihrer Virtuosität als realistische Erzählerin profitiert. Das überbordende Spiel mit Sprachvarietäten, die zahlreichen Sprachspiele und Neologismen stellen eine Herausforderung für dessen Übersetzung dar, die Christiane Buchner bravourös gemeistert hat.

Sparte Kinderbuch:
Martina Wildner
Königin des Sprungturms
Beltz & Gelberg
12,95 Euro, ab 11

Begründung der Jury:  In diesem Roman wird die Geschichte einer abgeschlossenen Mädchenfreundschaft retrospektiv erzählt. Die Freundschaft als gescheitert zu bezeichnen, wäre nicht richtig, denn beide Mädchen profitieren auch von der Trennung. Nüchtern und präzise berichtet die Ich-Erzählung von ihrer Faszination durch die schweigsame Karla und der gemeinsamen Leidenschaft für das Turmspringen, von Verbundenheit und Konkurrenz, von ihrem Wunsch, die Freundin zu verstehen und dem Verlust der gemeinsamen Basis, der sich als Folge der Aufdeckung ihres Geheimnisses zwangsläufig einstellt. Eine psychologisch ausgeleuchtete Erzählung aus dem Milieu des Leistungssports, an der Grenze zwischen Kinder- und Adoleszenzroman.

Sparte Kinderbuch:
Synne Lea
Leo und das ganze Glück
Aus dem Norwegischen von Maike Dörries
Verlag Friedrich Oetinger
12,95 Euro, ab 11

Begründung der Jury: Leo und Mei sind Nachbarskinder und in einer ganz eigenen, die Erwachsenen weithin ausschließenden gemeinsamen Welt zuhause. Es ist aber keine idyllische Spielwelt, sondern eher ein Schutzraum, der Leo das Überleben in seinem von Gewalt geprägten Elternhaus ermöglicht. Was Leo tatsächlich widerfährt, erfahren wir nur in Form von Andeutungen, Metaphern und Symbolen aus der partikularen Sicht der tendenziell unzuverlässigen weiblichen Ich-Erzählerin, die weiß, dass “das Licht“ bisweilen „mehr (verbirgt)als die Dunkelheit“ (S. 29).

Ein poetischer Text über kindliches Leid und die Unbedingtheit einer Liebe zwischen zwei Kindern. Die Geschichte hat kein Happy End und im Original einen weniger gefühligen Titel als in der deutschen Übersetzung (Leo og (= und) Mei)

Sparte Jugendbuch:
Sarah Crossan
Die Sprache des Wassers
Aus dem Englischen von Cordula Setsman
mixtvision Verlag
13,90 Euro, ab 13

Begründung der Jury: Die Erfahrung des Fremdseins in der Sprache bildet einen thematischen Kernbereich der Migrationsliteratur. In ihrem die Ankunft des polnischen Mädchens Kasienka in London schildernden Text hat Sarah Crossan dafür die Form eines – reimlosen und in freien Rhythmen gestalteten – Versromans gewählt. Die Schreibung in Versen verlangsamt die Lektüre und gestaltet das vorsichtig tastende Formulieren einer eigentlich hoch eloquenten Ich-Erzählerin in einer ihr noch unvertrauten Sprache nach. Im Original ist die ästhetische Funktion der Versschreibung komplexer als in der Übersetzung – es gibt zahlreiche klangliche und rhythmische Stilmittel wie Anaphern, Assonanzen oder Alliterationen, die Sprache ist bildhafter und manchmal haben Klang und Rhythmus eine mimetische Funktion.

Bleibt die knappe und immer noch atmosphärisch dichte, authentisch wirkende Darstellung von Kasienkas Fremdheitserfahrungen, vom Mobbing in der Schulklasse, der Trennung ihrer Eltern, der Behauptung gegenüber der Mutter und ihrer ersten Liebe - ein bestechend stilles und zugleich sehr emotionales Buch.

Sparte Jugendbuch:
James Proimos
12 Things To Do Before You Crash and Burn
Aus dem Englischen von Uwe-Michael Gutzschhahn
Gerstenberg Verlag
12,95 Euro, ab 14

Begründung der Jury: Sein Vater stellte sich dem Ich-Erzähler dieses Romans zeitlebens als ein eitler und egozentrischer Prominenter dar. Nun ist er tot und der Junge mit dem mythischen Namen Hercules wird erst einmal zu seinem Onkel nach Baltimore verfrachtet. Der hat dafür gesorgt, dass der zweiwöchige Aufenthalt für seinen Neffen zu einer veritablen Initiationserfahrung wird. Als die zwölf vom Onkel gestellten Aufgaben bewältigt sind, hat Hercules seine Illusionen über die Liebe verloren, ein Familiengeheimnis gelüftet und gelernt, den Realitäten des Lebens ins Auge zu blicken.

James Proimos erzählt diese Geschichte in einem rasanten Tempo, mit viel Humor, der vor allem in den Dialogen zum Ausdruck kommt und in der Übersetzung leider nur partiell vermittelt werden kann. Bleibt nicht weniger als eine originelle coming-of-age-Geschichte mit ironischen Brechungen, und einem Anti-Helden, der als Erzähler sein Spiel treibt mit den Erwartungen der Leser.

Sparte Jugendbuch:
Inés Garland
Wie ein unsichtbares Band
Aus dem Spanischen von Ilse Layer
Fischer KJB
14,99 Euro, ab 14

Begründung der Jury: Der Roman handelt im Argentinien der 1970er Jahre. Eine erwachsene Ich-Erzählerin lässt die Ereignisse ihrer Kindheit und frühen Jugend wieder lebendig werden. Die behütete Tochter einer wohlhabenden Familie aus Buenos Aires hatte in dem ländlichen Wochenend- und Feriendomizil der Eltern ihr persönliches Paradies gefunden, das sie an der Seite der beiden Nachbarskinder durchstreifte. Als die drei ungleichen Freunde älter wurden, ging ihre Verbundenheit verloren. Die große Gefahr, die ihren Freunden drohte, erkannte die Ich-Erzählerin nicht, denn sie lebte wie in einer Glasglocke, die sie von den sozialen und politischen Realitäten abschirmte. In dieses Leben brach der Terror des Militärregimes, dem ihre beiden Freunde schließlich zum Opfer fielen, wie eine Naturkatastrophe hinein.

Der Roman wird weithin aus der Sicht des erlebenden Ichs erzählt, mit einem elegischen Unterton und sehr knapp dosierten Reflexionen der erwachsenen Erzählerin. Durch diese Erzählweise gewinnt der Text ein hohes Maß an Spannung und Eindringlichkeit.

Sparte Jugendbuch:
Joanne Horniman
Über ein Mädchen
Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit
Carlsen
15,90 Euro, ab 14

Begründung der Jury: Anna ist aufgebrochen. Auf der Suche nach einem Leben jenseits der vorgezeichneten Bahnen hat sie ihre Heimatstadt verlassen und ihr Studium aufgegeben, um sich in einer veränderten Umgebung als junge Erwachsene neu zu erfinden. Dort erlebt sie eine aufwühlende Romanze mit heftiger Verliebtheit, Euphorie und großem Leid, als das Abenteuer der gegenseitigen Annäherung einen unglücklichen Ausklang nimmt.

Es ist eine der Stärken des Romans, dem Leser zunächst vorzuenthalten, dass Anna sich in ein Mädchen verliebt hat. Der Text lässt keinen Zweifel an der gesellschaftlichen Ächtung der Homosexualität, er bagatellisiert nicht die Angst der Mädchen, sich öffentlich zu ihrer Liebe zu bekennen. Dennoch steht nicht das Coming-out im Handlungsmittelpunkt, sondern die Liebesgeschichte, die der Roman mit großer Intensität und sprachlicher Klarheit erzählt. Am Ende kehrt die Ich-Erzählerin nach Hause zurück, verändert zwar, doch nach wie vor voller Zweifel an der Richtigkeit dieser Entscheidung. So unspektakulär und ehrlich wird selten von weiblicher Adoleszenz erzählt.

Sparte Jugendbuch:
Rainer Merkel
Bo

S. Fischer
22,99 Euro, ab 15

Begründung der Jury: Die erzählte Zeit in diesem umfangreichen Roman umfasst nur wenige Tage, dafür hat er gleich drei jugendliche Protagonisten mit den alliterierenden Namen Benjamin, Bo und Brilliant. Der vierte Held ist eindeutig die liberianische Hauptstadt Monrovia. Eigentlich sollte der 13-jährige Benjamin seinen Vater besuchen, der dort als Entwicklungshelfer tätig ist. Stattdessen erfährt er selbst überraschend Entwicklungshilfe durch die Erlebnisse und Gespräche mit den beiden Gleichaltrigen.

„Bo“ ist ein gekonnt mit den Techniken de Spannungsdramaturgie spielender Abenteuerroman, ein vom Motiv der Initiationsreise bestimmter Adoleszenzroman und ein Großstadtroman. Dass der Verfasser den Schauplatz und insbesondere das im Roman geschilderte Entwicklungshelfermilieu gut kennt, sei nur am Rande vermerkt. Es ist ein Buch mit vielen interessanten Seiten, dem eine breite Rezeption im jugendliterarischen Kontext zu wünschen wäre.

Sparte Jugendbuch:
Stefanie de Velasco
Tigermilch

Verlag Kiepenheuer & Witsch
16,99 Euro, ab 16

Begründung der Jury:  Nini und Jameelah mischen ihre Schulmilch mit billigem Cognac und Maracujasaft, schwanken zwischen dem kindlichen Wunsch nach Geborgenheit und der Lust auf Grenzerfahrungen, gehen auf den Strich, um für das „Projekt Entjungferung“ zu üben und ergehen sich in Grandiositätsphantasien à la Pippi Langstrumpf. Dennoch ist ihre Pubertät keine Dauerparty, eher ein Tanz am Rande eines Abgrundes. Denn mitten im schönsten Spiel sehen sich die Mädchen plötzlich in eine Tragödie verstrickt, deren Verlauf sie nicht beeinflussen können. An dieser zutiefst verstörenden Erfahrung zerbricht nicht nur die kindlich-unbekümmerte Leichtigkeit der beiden, sondern auch ihre Freundschaft.

Mit diesem Debütwerk ist der Autorin ein beeindruckend stringent erzählter realistischer Roman gelungen, der sich nicht den Regeln lebensweltlicher Wahrscheinlichkeit unterwirft. Sie fand dafür eine hoch artifizielle Sprache und schuf eine unverwechselbare Erzählstimme. Ganz krosse Literatur.

Sparte Sachbuch:
Christoph Niemann
Der Kartoffelkönig

Jacoby & Stuart
12,95 Euro, ab 5

Begründung der Jury: Wenn die Untertanen ihrem Wohltäter misstrauen, müssen sie eben überlistet werden. Das Buch gibt die Anekdote um den Soldatenkönig Friedrich Wilhelm wieder, der die Kartoffeln zum Schein von seinen langen Kerls bewachen ließ, um die preußischen Bauern von deren Wert zu überzeugen. Auf der Bildebene wird die Geschichte mit Kartoffeldruck-Figuren erzählt, die das Loblied auf die Weisheit des reformerischen Monarchen hin und wieder ironisch konterkarieren. Eine auch schon für Vorschulkinder reizvolle Einladung zur Begegnung mit Geschichte und deren absichtsvoller Inszenierung.

Sparte Sachbuch:
Heidi Trpak (Text), Laura Momo Aufderhaar (Illustration)
Gerda Gelse. Allgemeine Weisheiten über Stechmücken

Wiener Dom-Verlag
14,90 Euro, ab 6

Begründung der Jury: Gerda Gelse vulgo Stechmücke gehört einer gemeinhin wenig geschätzten Spezies an, für die das originell gestaltete Sachbilderbuch um Verständnis wirbt. Die Illustratorin verwendete Gräser und andere Pflanzenteile als Druckstöcke, um die zarte Gestalt des Insekts ins Bild zu setzen. Im Verein mit der bisweilen fast poetisch wirkenden Sprache trägt diese Art der Visualisierung dazu bei, die ästhetische Dimension des Gegenstands erkennbar werden zu lassen. Dabei wird jede Verniedlichung konsequent vermieden und ein hoher zoologischer Informationsgehalt erreicht.

Das in jeder Hinsicht gelungene Werk über ein Tier, mit dem wohl jedes Kind schon einmal in „Berührung“ kam, spricht die Neugier und Entdeckerfreude der Betrachter an und fördert eine aufgeschlossene Haltung gegenüber der Natur.

Sparte Sachbuch:
Anna Czerwińska-Rydel (Text), Marta Ignerska (Illustration)
Die Ton-Angeber

Aus dem Polnischen von Olaf Kühl
mixtvision Verlag
14,90 Euro, ab 6

Begründung der Jury:  Dieses in kräftigen Farben, mit Anklängen an den Pop-Art-Stil illustrierte Buch beweist, dass man das Wirken und Erleben von Musik grafisch darstellen kann, so dass beim Betrachten der Bilder Klangvorstellungen entstehen, die keine akustische, sondern eine ausschließlich visuelle Grundlage haben. Der Text schreibt den Instrumenten menschliche Eigenschaften zu, erzählt eine Geschichte von Individualität und Zusammenspiel und trägt auf diese Weise zur Zugänglichkeit der Bilder bei. Diese bergen das synästhetische Potential des Buches, das Betrachtern mit und ohne musikalischem Vorwissen Augen und Ohren zu öffnen vermag für die Musik und die Vielschichtigkeit der Musikinstrumente, die viel mehr sind als Werkzeuge zur Interpretation von Kompositionen.

Sparte Sachbuch:
Sebastian Cichocki (Text), Aleksandra Mizielinska (Illustration)
Sommerschnee und Wurstmaschine
Übersetzt von Thomas Weiler
Moritz
216 S., 14,90 Euro, ab 9

Begründung der Jury: Ein Sachbuch über Kunst, das komplett auf Abbildungen verzichtet, kommt einem ziemlich radikalen Statement zur Frage der Reproduzierbarkeit von Kunstwerken gleich. Wer hat sich nicht schon beim Gang durchs Museum oder beim Durchblättern der einschlägigen Werke darüber geärgert, dass die Texte kaum mehr bieten als Bildbeschreibungen. Hier stehen Text und Illustrationen in einem ganz anderen Verhältnis, denn beide beschränken sich darauf, den eigentlichen Gegenstand zu kommentieren und zu beschreiben. Sie wecken Interesse, regen die Wahrnehmung an und vermitteln Hintergrundwissen – Rezeptionsanleitungen geben sie nicht.

Zudem geht es bei der hier thematisierten „sehr modernen Kunst“ nicht nur um Artefakte und Objekte, sondern auch um Aktionen, die man in einem herkömmlichen Bildband sowieso nicht hätte dokumentieren können. Ein Buch für kunstinteressierte Kinder und alle anderen, die sich am liebsten selbst ein Bild machen möchten.

Sparte Sachbuch:
Adam Jaromir (Text und Storyboard), Gabriela Cichowska (Illustration)
Fräulein Esthers letzte Vorstellung
Gimpel Verlag
29,90 Euro, ab 10

Begründung der Jury:  Janusz Korzcaks Pädagogik drückt sich sehr stark in seiner Kindern entgegengebrachten Haltung aus, er hat sie daher in seinen Werken auch weniger erklärt oder diskursiv entwickelt als erzählt. Dieses Wesensmerkmal greifen Adam Jaromir und Gabriela Cichowska in ihrem Buch auf, indem sie auf mehreren Ebenen erzählen – in Bildern und in Texten und in unterschiedlichen Erzählsträngen. Sie bringen Passagen aus Korzcaks Tagebuch in Zusammenhang mit der Geschichte eines Mädchens aus dem Waisenhaus und mit der der Erzieherin, die mit den Kindern ein Stück von Rabindranath Tagore zur Aufführung brachte. Die unterschiedlichen Ebenen der teils dokumentarischen, teils fiktionalen Darstellungen werden im Text durch den Wechsel der Perspektiven kenntlich gemacht und auf der Bildebene durch Bildzitate, durch die Montage von Fotographien und Zeichnungen und durch die Typographie. Künstlerisch und sachlich überzeugend zeigt das Buch, wie wichtig Sprache, Spiel und Ästhetik für die Bewohner von Korzcaks Waisenhaus waren.

Sparte Sachbuch:
Nikolaus Nützel
Mein Opa, sein Holzbein und der Große Krieg. Was der Erste Weltkrieg mit uns zu tun hat
arsEdition
14,99 Euro, ab 12

Begründung der Jury: Eines der wenigen Sachbücher für junge Leser über den Ersten Weltkrieg und seine Auswirkungen auf den Verlauf der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Die autobiographische Rahmung trägt nicht nur zur Anschaulichkeit der Darstellung bei, sie entlastet den Text auch von unangemessenen Objektivitätsansprüchen.

Der Verfasser hält mit seiner Meinung nicht hinterm Berg und stellt zum Teil etwas gewagte historische Vergleiche an, ermöglicht es aber dem Leser, seine Sichtweise kritisch zu hinterfragen, weil er sie gleichsam als persönlich Betroffener vorträgt. Ein Buch, das Verständnis weckt für die Aktualität der Geschehnisse vor hundert Jahren, indem es sie im kommunikativen Gedächtnis verortet.

Nominierung der Jugendjury:
John Boyne (Text), Oliver Jeffers (Illustration)
Die unglaublichen Abenteuer des Barnaby Brocket    
Aus dem Englischen von Adelheid Zöfel
Fischer KJB
14,99 Euro, ab 12

Begründung der Jury:  Familie Brocket ist eine ganz normale Familie. Wahrscheinlich die normalste Familie in ganz Sidney. Bis Barnaby auf die Welt kommt. Von Geburt an schwebt er, was für seine Eltern die absolute Hölle ist. Für sie ist Normalität das Wichtigste. Doch so sehr er sich auch anstrengt – er schafft es nicht auf dem Boden zu bleiben. So kommt es eines schicksalhaften Tages zum Unglück: Barnaby schwebt in Richtung Himmel, lässt Sidney hinter sich und begibt sich auf eine abenteuerliche Reise…

Mit den unglaublichen Abenteuern des Barnaby Brocket erschafft John Boyne eine wundervolle Parabel über das „Normalsein“. Er lässt Barnaby auf Menschen und Orte treffen, die auf ihre ganz eigene Art und Weise „anders“ sind und führt dem Leser vor Augen, dass das „Anderssein“ ganz unproblematisch sein kann. Was ist normal? Was ist anders? John Boyne plädiert mit seiner Geschichte für mehr Akzeptanz und Toleranz in der Welt.

Der Roman sprüht vor Phantasie und Witz. Überall lassen sich Anspielungen auf das Weltgeschehen finden. Die Erzählweise ist sehr bildhaft und so leichtfüßig, dass man ganz schnell in Barnabys Sicht auf die Welt eintauchen kann und erst wieder auftaucht, wenn die letzte gelungene Illustration von Oliver Jeffers das Buch abschließt.

Nominierung der Jugendjury:
Raquel J. Palacio
Wunder
Aus dem Englischen von André Mumot
Hanser
16,90 Euro, ab 12

Begründung der Jury: „Ich heiße übrigens August. Ich werde nicht beschreiben wie ich aussehe. Was immer ihr euch vorstellt – es ist schlimmer.“ Wann immer August, genannt Auggie, aus dem Haus geht, begegnen ihm entsetzte oder mitleidige Blicke. Kleine Kinder haben Angst vor ihm, man tuschelt hinter seinem Rücken. Deshalb hat er die Öffentlichkeit bisher gemieden. Doch nun, mit zehn Jahren, soll er endlich die Schule besuchen.

Auch dort begegnet man ihm mit Abscheu, niemand möchte mit ihm zu tun haben. Doch er findet zwei Freunde, Summer und Jack, auf die er sich scheinbar verlassen kann. Allerdings macht die Freundschaft mit Auggie auch diese beiden zu Außenseitern, womit sie unterschiedlich umgehen. August kämpft um Anerkennung – unterstützt von seinen neuen Freunden und seiner Familie.

Dieses Buch begeistert alle Altersgruppen. Das oft genutzte Motiv, dass es auf die inneren Werte ankommt, wird hier neu und ohne mahnenden Zeigefinger umgesetzt. Durch wechselnde Perspektiven kann der Leser nicht nur die Gefühle und Handlungen Auggies, sondern auch die seines Umfeldes verstehen. Der Leser entwickelt sich mit den sympathischen Charakteren. Die flüssige Sprache und die zahlreichen Details lassen die Geschichte persönlich und lebensnah wirken. Der Roman berührt den Leser und regt zum Nachdenken an.

Nominierung der Jugendjury:
Jostein Gaarder
2084 – Noras Welt
Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs
Hanser
14,90 Euro, ab 12

Begründung der Jury: Im Jahr 2084 sind die Folgen des Klimawandels deutlich spürbar. Halb Europa ist eine Wüstenlandschaft und Millionen von Klimaflüchtlingen ziehen auf der Suche nach einer neuen Heimat mit ihren Kamelen gen Norden.

Die junge Nora lebt im Norwegen der Gegenwart und ahnt noch nichts von den Ausmaßen der kommenden Katastrophe, bis sie eines Nachts im Traum ihrer Ur-Enkelin Nova begegnet. Nova wirft der Urgroßmutter und deren Generation vor, durch passive Rücksichtlosigkeit dem Klimawandel Vorschub geleistet und gedankenlos gegenüber ihren Nachkommen gehandelt zu haben. Auf diese Anklage hin fasst Nora den Entschluss, aktiv zu werden.

In einer guten Mischung aus mitreißender Story und interessanten Fakten behält der Romancharakter die Oberhand. Das Buch präsentiert glaubhaft eine ungeschönte Zukunft, die ohne die klassischen Sciencefiction-Elemente auskommt. Durch die Zeitsprünge bringt Jostein Gaarder die Generationen geschickt in Dialog. Das brisante Thema schafft einen intensiven Zugang zum Leser und lässt ihm doch Freiräume zur eigenen Meinungsbildung. Damit hebt sich dieser Text entscheidend von anderer Umweltliteratur ab.

Nominierung der Jugendjury:
Janne Teller
Alles – worum es geht
Aus dem Dänischen von Sigrid C. Engeler und Birgitt Kollmann
Hanser
12,90 Euro, ab 13

Begründung der Jury: In Janne Tellers abwechslungsreichem Kurzgeschichtenband Alles, worum es geht werden tabuisierte Themen wie Verzweiflung, Ausgrenzung, Gewalt, Missbrauch und Rassismus sozialkritisch behandelt. Dabei geht die Autorin auf den jeweiligen Konflikt, der meist nur unterschwellig auftritt, mit viel Offenheit ein.

Trotz der Tiefe und Ernsthaftigkeit der einzelnen Geschichten sind diese angenehm zu lesen und regen zum Nachdenken an. So zum Beispiel die Geschichte eines kleinen introvertierten Jungen, der in dem Baum, den er Tag für Tag von seinem Fenster aus beobachtet, seinen einzigen Freund sieht, und dessen Mutter, die sich zusätzlich zu ihren eigenen Problemen um ihren sonderbaren Sohn sorgt.

Die faszinierende Fähigkeit der Autorin, jungen Erwachsenen ein Thema mit vielseitigen Einblicken nahe zu bringen, zeigt sich auch in anderen Erzählungen. So in der Geschichte „Sich so in den Hüften wiegend und die Augen zu Boden gerichtet“, in der sie sich mit den schwierigen Fragen der Integration und Toleranz auseinandersetzt. Dem Leser wird die Problematik schnell bewusst und so lässt Teller ihn aufmerksamer und aufgeschlossener zurück. Ein etwas anderes, doch umso wertvolleres Jugendbuch!

Nominierung der Jugendjury:
Alexia Casale
Die Nacht gehört dem Drachen
Aus dem Englischen von Henning Ahrens
Carlsen
14,90 Euro, ab

Begründung der Jury: Vom Titel her könnte man glauben, es gehe um Mystery oder Fantasy. Das ist ganz und gar nicht so: Es geht um die harte Wirklichkeit für Evie und ihre Adoptivfamilie. Durch die Häufung dramatischer Ereignisse wird klar, dass nur wer Leid kennt, auch Leid sieht und den Mut aufbringt, zu handeln. Das hilft am Ende, das Dunkle im Leben der sympathischen Hauptpersonen zu überwinden.

Obwohl am Ende ungewiss bleibt, was Evie genau passiert ist (der Leser erfährt nur wenig über die Misshandlungen in ihrer Herkunftsfamilie), wirkt das Buch nicht beunruhigend, weil alles aus der Rückschau erzählt wird. Es ist wichtig, dass über dieses Thema geschrieben wird und sensibler kann es nicht erzählt werden. Dazu tragen vor allem die phantastischen Nacht-Geschichten bei, deren gut übersetzte genaue und lyrische Sprache eine geheimnisvolle Welt entfaltet. Die Idee, aus der eigenen abgebrochenen Rippe einen Drachen zu schnitzen und diesen zum Leben zu erwecken, finden wir großartig. Daneben ist die Schilderung des Alltags ein Stärke des Buchs: Dieselben „Fieslinge“, die jedem in der Schule das Leben schwer machen, treiben auch hier ihr Unwesen. Die Lehrer sind mehr oder weniger gerecht, Ärger mit den Eltern wird nicht ausgespart. Die Autorin lässt dem Leser genug Zeit zum Nach- und Selberdenken, sodass nicht alles auf einem Silbertablett serviert wird. Nicht zuletzt hat uns das Cover angesprochen: Es passt auffallend gut zur Geschichte und macht neugierig.

Nominierung der Jugendjury:
Boulet (Szenario),Pénélope Bagieu (Zeichnungen und Farbe)
Wie ein leeres Blatt
Aus dem Französischen von Ulrich Pröfrock
Carlsen
17,90 Euro, ab 13

Begründung der Jury: „Eloïse Pinson, 10, Rue de Nancy 75010 Paris“, das sagt der jungen Pariserin Eloise nichts. Sie hat ihr Gedächtnis verloren. Wie ein leeres Blatt ist aber keine Geschichte über das Vergessen, sondern über das Finden und Entwickeln einer individuellen Persönlichkeit, die von dem „leeren“ Leben der Protagonistin fortführt.

Die Verknüpfung von Text und liebevollen, ausdrucksstarken Zeichnungen macht diese Graphic Novel so besonders. Sie beschreibt, wie sich Eloïse auf charmante, lustige und anrührende Weise auf die Suche nach sich selbst begibt und ihr Leben dabei in allen Facetten aus einem anderen Blickwinkel betrachtet.

„Na gut. Nochmal ganz von vorn“, eine Einladung zur Selbstfindung, die sich wie ein roter Faden durch die Handlung zieht. Rätsel und Spannung inspirieren die Protagonistin zum inneren Monolog, der unerwartete Sichtweisen preisgibt. Die Authentizität stellt innovativ die Perfektion und Belehrung in den Schatten. Es zählt, was wir aus unserem Leben machen. Es zeugt von Plan und Struktur, dieser Thematik durch ein rosarotes Cover eine optimistische Ausstrahlung zu verleihen. Bereits der Titel und die Umschlagillustration wecken Neugier. Das schwarze Gummiband schützt das Buch wie einen Schatz. Eine starke Komposition.