Porträt des Friedenspreisträgers 2014

Wahrheit statt Durchschnittsmeinung

3. März 2015
von Holger Heimann
Jaron Lanier, Internet-Pionier der ersten Stunde, ist inzwischen ein scharfer Kritiker und Aufklärer der digitalen Öffentlichkeit. Dafür erhält Lanier in diesem Jahr den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.

Ein Technikfeind ist Jaron Lanier nicht. Im Gegenteil, der 1960 in New York City geborene US-Amerikaner gehört als einer der Internet-Pioniere zu den einflussreichsten Konstrukteuren der digitalen Welt; den Begriff der »virtuellen Realität« hat er geprägt. Und doch zählt dieser Mann seit einiger Zeit zugleich zu den schärfsten Kritikern von Netzstrukturen, die dazu führen, dass Individualität negiert wird.
Seine beiden ins Deutsche übersetzten Bücher sind kraftvolle Ausformungen dieser Kritik. In »Gadget. Warum die Zukunft uns noch braucht« (Suhrkamp, 2010) hat Lanier aufgezeigt, welches Ausmaß der Verlust an Subjektivität in der Anonymität des Netzes angenommen hat. Die Schwarm­intelligenz, wie sie sich bei Wikipedia manifestiert, ist für den Autor gänzlich ungeeignet zur Darstellung von Wissen. Verbreitung finden so, dies ist seine Überzeugung, keine Wahrheiten, sondern lediglich die Durchschnittsmeinung einer anonymen Masse.

In seinem neuesten Werk, »Wem gehört die Zukunft?« (Hoffmann und Campe, 2014), hat er seinen Vorwurf erweitert, fürchtet er doch die totale Überwachung und Ausbeutung der Menschen. Von der Umsonst-Mentalität, die eng mit dem Internet verknüpft ist, profitieren, so seine Diagnose, lediglich große Anbieter und Konzerne wie Facebook, Twitter und Google. Die demokratisch verfasste Gesellschaft aber verliert.

Natürlich stellt sich alsbald die Frage, wie aus einem der Vordenker des Internets ein Mann werden konnte, der so vehement und wortgewaltig wie kaum einer sonst auf die Gefahren hinweist, »die unserer offenen Gesellschaft drohen, wenn ihr die Macht der Gestaltung entzogen wird«, wie es in der Begründung des Stiftungsrates zum Friedenspreis heißt. Der Verweis auf das typische Verhaltensmuster eines Renegaten, bei dem die Intensität der Zuneigung sich in ein entsprechendes Maß von Ablehnung umkehrt, griffe zu kurz, so er überhaupt angebracht sein mag.

Die Wurzeln für Laniers höchst empfindsames Sensorium gegenüber den problematischen Tendenzen des Netzes, die damit einhergehende Verherrlichung der Masse  und die Degradierung des Einzelnen, wofür Lanier den Begriff des »digitalen Maoismus« fand, liegen wohl eher in der Familiengeschichte des designierten Friedenspreisträgers begründet. Seine Mutter überlebte die Gräuel eines Konzentrationslagers nur knapp und emigrierte 15-jährig von Wien nach Amerika. Und auch der Vater wusste als Kind eines ukrainischen Juden, der vor den Pogromen in der Sowjetunion geflohen war, nur zu gut, wozu ein fanatischer Mob fähig ist.

Für Jaron Lanier selbst ist das Verbindende zwischen den politischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts, in denen der Einzelne nichts zählte, stattdessen das Kollektiv beschworen wurde, und einer »digitalen Barbarei« in der Onlinewelt offenkundig. In einem Interview mit der »FAZ« hat er die­se für ihn offensichtliche Analogie konkretisiert: »Es gibt nach meiner Meinung deutliche Parallelen zwischen den frühen Kommunisten und den heutigen Internetpiraten. Als Ideologie klang das doch damals gut, bis es empirisch in den Abgrund ging. Es hängt wohl mit der menschlichen Biologie zusammen, dass im Kollektiv die Strategie, etwas zu verbessern, zum Scheitern verurteilt ist. Menschen verwandeln sich in Drecksäue. Davor habe ich am meisten Angst.«

Angst hatten offenbar auch Jaron Laniers Eltern. Jedenfalls gaben sie nach der Geburt ihres Kindes ein Künstlerleben in Greenwich Village auf und siedelten zunächst nach Colorado und später nach Texas über. Erst hier, in der Nähe der mexikanischen Grenze, so hat ihr Sohn später gemutmaßt, fühlte sich das Paar, das seinen eigentlichen Namen Zepel für den weniger jüdisch klingenden Lanier ablegte, sicher: »Ich glaube, sie dachten, wir haben jetzt ein Kind. Gehen wir weit weg, verstecken wir uns!«
In solcher Abgeschiedenheit ist Lanier groß geworden. Heute lebt er mit seiner Frau, eine Kinderpsychologin, und der siebenjährigen Tochter in Berkeley, dem Mekka der Technologie-Utopisten. Im ganzen Haus verteilt finden sich mehr als tausend, teils überaus seltene Instrumente. Die Sammelleidenschaft und die Liebe zur Musik hat der Mann mit der massigen Statur und den imposanten Dreadlocks von den Eltern geerbt. Zur Familie in Kalifornien gehört auch eine Katze: Starlight. Weil Lanier Facebook ablehnt, zugleich aber maßgebliche Entwicklungen und Diskussionen nicht verpassen will, besitzt das Tier einen Account. Er hat es so erklärt: »Manche Leute werden mir nun vorwerfen, ein Heuchler zu sein, weil ich mich sonst gegen Anonymität im Internet ausspreche und all das schlechte Betragen, das dadurch gefördert wird. Als einer der in seiner Community oft mit nichtkonformen Meinungen auffällt, war das aber für mich der einzig gangbare Weg.«

Ein exzentrischer Zug scheint dem Mann, der mit 15 die Schule abgebrochen hat, aber später unter anderem an der Eliteuniversität Yale unterrichtete, nicht fremd. Die »Times« hat Jaron Lanier einmal zu den hundert einflussreichsten Menschen der Welt gerechnet. Nicht erst seitdem ist er ein begehrter Redner. Vor vier Jahren sollte Lanier einen Vortrag auf einer Konferenz in Austin halten. Er trat also ans Mikrofon – und dann geschah etwas Ungeheuerliches. Er bat seine Zuhörer, während der Rede nicht zu bloggen und nicht zu twittern. Seine Begründung dafür ist diese: »Wenn man erst zuhört und später schreibt, hat das, was man notiert, die Chance vorher den Filter des Gehirns zu passieren. Man ist mithin selbst in dem anwesend, was man sagt. Und das wiederum bedeutet, dass man existiert.« Daran anknüpfend fragt er: »Ist derjenige, der nur Informationen wiedergibt, wirklich als denkender Mensch anwesend?« Diese Frage aber führt direkt ins Zentrum von Jaron Laniers Nachdenken über die Zukunft des Netzes und unseres Zusammenlebens.