Kommentar zu Amazons Fire Phone

Die Welt ist alles, was in der Datenbank gespeichert ist

16. Juli 2015
von Börsenblatt
Mit dem Fire Phone erhöht Amazon die Drehzahl im mobilen Online-Handel – und beschleunigt die Metamorphose des Kunden zum wandelnden Datenlieferanten. Von Börsenblatt-Redakteur Michael Roesler-Graichen.
Die Bedeutung eines Unternehmens kann man auch daran ermessen, inwieweit es Taktgeber für die Medien ist. Amazon.com ist zweifellos ein solcher Taktgeber. Und die Frage ist: Wer ist unabhängiger? Der, der über Amazon berichtet, oder das Unternehmen selbst, das die mediale Aufmerksamkeit mit täglich neuen Produktmeldungen und (Negativ-)Schlagzeilen auf sich zieht und Heerscharen von Journalisten mit seinen Themen füttert. 


Die gleiche Frage könnte man – in Anlehnung an den diesjährigen Friedenspreisträger Jaron Lanier – an den Online-Kunden richten: Bist Du noch Kunde von Amazon – oder bist Du nicht längst sein Produkt, sein Datenprofil, das sich aus all Deinen Aktivitäten und Transaktionen im Netz speist und dazu dient, die kommerzielle Durchdringung aller Lebensbereiche weiter zu beschleunigen?

Mit der Ankündigung des neuen Smartphones "Fire" (zunächst nur für die USA) wird die Umkehrung von Kunde und Produkt – von Kaufsubjekt und Kaufobjekt – weiter auf die Spitze getrieben. Das mobile Gerät wird dank des Firefly-Button, mit dem sich Webadressen, Barcodes und Produkte abscannen und unmittelbar in Online-Käufe verwandeln lassen, zur Schnittstelle zwischen Kunde und Warenwelt. Eine Datenbank mit über 100 Millionen Einträgen (darunter 70 Millionen Produktinformationen) spiegelt nicht nur die Welt, sondern gibt vor, was in dieser Welt relevant ist. Alles, was im Abgleich mit der Datenbank „erkannt“ wird (weil es als Abbild bereits vorhanden ist), existiert. Eine Art konsumlogischer Positivismus, der das Verhältnis von Gegenstand und Abbild auf den Kopf stellt.

Amazons Fire Phone wird – neben den zahlreichen anderen Funktionen, über die auch Smartphones anderer Anbieter verfügen – zu einer mobilen Shopping-Maschine, die die Zeit vom Kaufimpuls bis zur Auslösung einer Bestellung maximal verkürzt und den Kunden in den Zustand einer buchstäblich kindlichen Weltaneignung versetzt: Wie der Säugling jeden ihm neuen Gegenstand in den Mund nimmt und bespeichelt, scannt der Fire-Kunde jeden Gegenstand, der ihm vor den Smartphone-Sensor kommt und sein Besitzinteresse weckt.

Welche Folgen dies für den Handel – und eben auch den Buchhandel – haben wird, ist noch nicht abzusehen. Wenn aber potentiell der ganze Planet zum Showroom wird, und die Firefly-Funktion (die es testweise in den USA schon in der Amazon App gab) jede Internetrecherche überflüssig macht, dann dürfte am Ende nur einer davon profitieren: der Online-Handel und insbesondere Amazon.

Wer ein Amazon Fire Smartphone kauft, liefert sich also vollends Amazon aus. Denn das Gerät, das er von Amazon kauft, dient vornehmlich dazu, mit noch größerer Ausschließlichkeit als bisher nur Produkte zu vertreiben, die Amazon in seinem Sortiment hat. Und die Statistik aller Firefly-Klicks ist der Indikator für Amazon, in welche Richtung die eigene Produktpalette auszubauen ist, oder welche algorithmischen Empfehlungen auszusprechen sind.

Der Kunde erwirbt also ein Gerät, mit dessen Hilfe er noch stärker als bisher in der Amazon-Matrix gefangen sein wird. So wie der Kindle dies für E-Books vermocht hat, vermag das Fire Phone dies für die gesamte Warenwelt. Darin liegt eine totalitäre Tendenz, der sich der einzelne immer schwerer wird entziehen können. Eine Gefahr, die sich durch die Kombination der Geschäftsmodelle aller großen Internetkonzerne potenzieren wird.