Facebook-Appell von Vea Kaiser

"Amazon ist unnötig"

12. September 2014
von Börsenblatt
Jung, netzaffin, beruflich erfolgreich – so stellt man sich das typische Profil eines Amazon-Buchkäufers vor. Vea Kaiser, 26 Jahre alt, Schrifstellerin aus Wien, würde da haargenau hineinpassen. Voll daneben! Auf Facebook hat die Autorin zehn Thesen gegen Amazon angeschlagen, die es in sich haben. Sehr emotionale, aber gleichzeitig scharfsinnige Zeilen, die mit den Argumenten der Amazon-Befürworter aufräumen.

Da nicht alle boersenblatt.net-Leser Vea Kaisers Beitrag auf Facebook folgen können, hier der Text im Wortlaut:

"Ja, ich gehöre zu den 1188 dtspr. Autoren, die den offenen Brief an Amazon unterschrieben haben (http://www.fairer-buchmarkt.de/). Allerdings mit ein bissi Bauchweh, weil ich diesen offenen Brief viel zu freundlich und zu wenig radikal finde. Protestieren ist viel zu wenig, nein: boykottieren! Amazon ist nicht nur böse, Amazon ist v.a. unnötig. Eine einzig positive Sache seh ich an diesem Konzern: Amazon ist ganz praktisch, wenn einem ein Buchtitel oder der Name eines Autors nicht einfällt, die Datenbank funktioniert meistens ganz gut. Daher mein Vorschlag: holt Euch, wenn notwendig, die ISBN bei Amazon, aber bestellt beim stationären Buchhandel. Wieso? 10 ganz offensichtliche und einfach Gründe: 

1. Das Hauptargument, Amazon wäre schnell und bequem, ist Blödsinn. Die meisten Buchhandlungen bekommen ein Buch, das ihr bestellt, bereits am nächsten Tag in den Laden. Und schicken es Euch sogar portofrei nachhause (bzw. gibt es auch unabhängige Buchhandlungen mit Online-Shop, z.b. hartliebs.at, ocelot.de). 

2. Der Buchhändler hat ein Interesse daran, Euch das RICHTIGE Buch zu verkaufen. Er berät Euch, er hört Euch zu, er rät Euch vielleicht auch ab - im persönlichen Gespräch. Amazon erstellt seine "Empfehlungen" aufgrund von Algorithmen á la „welche Bücher werden miteinander gekauft“. Ein Beispiel? Lesern von Blasmusikpop wird die Biographie eines magersüchtigen Managers empfohlen. Wieso? Weil wir miteinander bei Markus Lanz waren und viele Zuschauer von der Couch aus beide Bücher bestellten. 

3. Euer Buchhändler zahlt VOR ORT Steuern, genau wie Ihr. Amazon zahlt durch ein komplexes Firmengebilde und Millionen Tricks einen lächerlichen Minimalsteuersatz in Luxemburg. Schweinerei? Mega Schweinerei!

4. Wie die Angestellten von Amazon ausgebeutet und behandelt werden, habt Ihr sicherlich mittlerweile schon gehört. Aber habt Ihr auch mitbekommen, dass Amazon seine Standorte in Österreich und Deutschland, wo es mittlerweile auch Streiks gibt, schließen will? Sprich: Mitarbeiter, die sich wehren, werden gekündigt. 

5. Schon mal davon gehört, dass Amazon Lesungen abhielte? Etwas für die Literatur tut, das mit Gewinn-Machen nichts zu tun hat, aber Lesern Spaß macht und Autoren die Möglichkeit bietet, ihre Arbeit zu präsentieren? Nein, weil es Amazon nicht um die Lese- und Buchkultur, sondern um den Profit geht. 

6. Debütanten, neue Autoren etc. haben auf Amazon de facto keine Chance – Amazon stellt dem Leser keine neuen Autoren vor, ermöglicht unbekannten Debütanten keine spezielle Promotion. Über Amazon kann man nicht Neues, Mutiges oder Nischenliteratur kennenlernen, denn Amazon empfiehlt Euch zu 95% Bestseller und Etabliertes. Buchhändler hingegen sind Neugierig auf Neues, um auch Euch Neues zu zeigen, und interessieren sich v.a. auch für Sachen abseits des Mainstreams, die auf ihre Art geil sind. 

7. Amazon arbeitet daran, die Konkurrenz zu zerstören und gibt sich nicht einmal Mühe, das zu verbergen. Ebenso arbeiten die Amazon-Lobbyisten in Brüssel am Fall der Buchpreisbindung. Wieso? Damit sie Euch die Bücher billiger anbieten können? NEIN. Sondern, damit sie, wenn es keine Konkurrenz gibt und ihnen niemand mehr Preisvorschriften macht, mit den Preisen ordentlich in die Höhe gehen können – für den eigenen Profit. Zurzeit schreibt die Buchsparte von Amazon rote Zahlen, aber das wird gern in Kauf genommen, denn das Ziel ist ja bekannterweise nicht, neben anderen zu existieren, sondern alle anderen zu ersetzen. 

8. Amazon bestellt übrigens immer nur eine „Minimalzahl“ der Bücher vom Verlag, um die Lagerkosten gering zu halten. Wenn jedoch ein Buch z.b. wegen eines Medienauftritts des Autors stärker nachgefragt wird, als Amazon in seiner Minimalkalkulation dachte, dann heißt es: „gewöhnlich lieferbar in 2-4 Wochen“. Amazon tut dann so, als ob die Verlage schuld seien, weil sie nicht genug gedruckt hätten, was Blödsinn ist. Nein, Amazon traut Büchern einfach nichts zu. Anders Euer Buchhändler: wenn er an ein Buch glaubt, bestellt er mehr davon und legt sich ins Zeug. Und selbst wenn es ihm ausgeht, anders als Amazon mit seinem zentralisierten, perversen, ausbeuterischen Logistik-System, kann es Euer Buchhändler meist am nächsten Tag schon im Laden haben. Dem Zwischenhandel und seinen nachts herumdüsenden Lieferboys sei Dank. 

9. Ob Amazon Gummistiefel, Türmatten oder Bücher verkauft, ist Amazon egal. Euer Buchhändler hingegen teilt Eure Liebe zu Büchern. 

10. Zum Abschluss ein kleines Gedankenexperiment: In einer Welt, in der es nur Amazon gäbe, würden Mitarbeiter ausgebeutet, Verlage unter Druck gesetzt, und den Konsumenten das Geld aus der Tasche gezogen. Ihr hättet kaum Möglichkeiten, Euch ein Bild über die Neuerscheinungen, über neue Autoren, generell über den Bestand der dtspr. Bücher zu machen, niemand würde Euch beraten, Ihr wärt Algorithmen und Computer-Logik ausgeliefert bzw. von den Medien (und somit dem Literaturgeschmack der Literaturkritiker) ausgeliefert. Non-Bestseller hätten es unendlich schwer, die „Mittelklasse“ würde völlig wegsterben, es gäbe nur noch Bücher, die sich verkaufen, und Bücher, die sich gar nicht verkaufen. Ergo: Wollt Ihr in einer Welt leben, wo Ihr de facto nur die Wahl zwischen Sadomaso-Hausfrauen-Pornos, Vampirromanen und Regionalkrimis habt? Wenn ja, dann bitte bestellt bei Amazon. Wenn nein, dann Jacke anziehen und dem Buchhändler um die Ecke (oder seinem Online-Shop) einen Besuch abstatten. Er wird Euch beraten (wenn ihr das wollt), er wird euch herzlich willkommen heißen, er gibt Euch die Möglichkeit zu stöbern, Euch selber ein Bild zu machen, er wird Euch zur nächsten Lesung in seinem Laden einladen, v.a. er wird Euch durch seine (wahrscheinlich) dicken Brillengläser anschauen und dieselbe Liebe zum Buch teilen, die auch hier habt, und die Euch treibt, wenn Ihr diese tolle Sache namens LESEN tut."

Vea Kaiser hat 2012 bei Kiepenheuer & Witsch ihren Debütroman "Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam" veröffentlicht.