Interview mit KNV-Chef Oliver Voerster

"Wir bieten dem Wettbewerb preislich Paroli"

25. September 2014
von Börsenblatt
Verlagsauslieferung und Barsortiment unter einem Dach, Logistikmannschaft halbiert, Print on Demand voll integriert: Mit seinem "Jahrhundertprojekt" Erfurt verbindet KNV-Chef Oliver Voerster auch ein paar Ansagen an die Konkurrenz.

Für ein "Jahrhundertprojekt", wie Sie die neue Zentrallogistik in Erfurt nennen, braucht es gewichtige Gründe. Welche waren Ihre?
Das Umfeld der fünften Generation unseres Familienunternehmens, in der unsere Väter am Ruder waren, war von großer Stabilität geprägt. Die Vielfalt des Händlernetzes war nicht durch Amazon und Filialisten bedroht und das E-Book noch ein unbekanntes Wesen. Über Jahrzehnte hat jeder ganz gut verdient, ohne dass gravierende Änderungen notwendig waren. In dieser Zeit sind wir recht erfolgreich mit zahlreichen An- und Neubauten Stück für Stück gewachsen, was aber auch zu einigen logistischen Brüchen geführt hat.

Zum Beispiel?
15 Gebäude auf vier Standorte verteilt, mit Brücken verbunden und durch Straßen getrennt − da gibt es zu viele ineffiziente Prozesse. Die möglichen Synergien, Barsortiment und Verlagsauslieferung in einer Unternehmensgruppe unter einem Dach zu haben, konnten wir so nur unzureichend nutzen. Dieses Potenzial auszuschöpfen, war eine unserer Missionen für Erfurt.

Waren Sie dadurch wirtschaftlich schon in Schwierigkeiten?
Aufgrund der Konzentrationsbewegungen sind wir unter starken Margendruck geraten. In den vergangenen zwei Jahrzehnten ist uns in der Verlagsauslieferung etwa alle fünf Jahre unser gesamtes Unternehmensergebnis weggebrochen und musste durch Kosteneinsparungen wieder generiert werden. Der extreme Wettbewerb hat zu einem Verfall der Auslieferungsgebühren geführt. Natürlich haben wir auch rationalisiert, aber irgendwann ist die Zitrone in bestehender Infrastruktur ausgequetscht.

Wann wurde Ihnen das klar?
2003 wurde uns deutlich, dass wir eine Antwort auf die Konzentrationsbewegung und den damit zusammenhängenden Margendruck brauchen. Das war damals für mich der Anlass, mit einem kontinuierlichen Verbesserungssystem zu starten, um dann 2007 ein umfassendes Kaizen-System mit der Hilfe von Porsche Consulting einzuführen.

Haben Sie vor zehn Jahren schon gewusst, dass auch Kaizen auf lange Sicht nicht reichen wird?
Nein. Aber schon 2009 war meinem Cousin und mir klar, dass ein Optimieren bestehender Prozesse nicht ausreichen würde und uns nur noch eine neue Infrastruktur weiterhelfen kann, um eine angemessene Profitabilität der Unternehmensgruppe zu erhalten. Man muss solche gravierenden Veränderungen anstoßen, wenn man noch ausreichend Geld verdient und die Banken an einen glauben.

Sie und Ihr Cousin Frank Thurmann haben vor Ihrer Entscheidung für eine Zentrallogistik Beratung eingeholt. Was empfahlen die Externen?
Wir haben uns zuerst die abenteuerliche Frage gestellt, wie der Buchmarkt 2030 aussehen könnte. Es entstand ein riesiger Datentopf − welche Exemplare in welche Vertriebskanäle, in welchen Bündelungen, Artikelstrukturen, das Verhältnis Non-Books zu Books, und so weiter. Die Daten haben wir zwei Logistikberatungsunternehmen mit der Frage zur Verfügung gestellt, was für uns die sinnvollste logistische Konzeption der Zukunft wäre. Die Antworten waren identisch: Zentralisiert in einer Logistik in der Mitte Deutschlands und nutzt maximal die Synergien.

War die Mitte Deutschlands damit gesetzt? Oder haben Sie Alternativen durchdacht?
Wir haben natürlich auch das Modell untersucht, am Standort oder in der Nähe von Stuttgart zu zentralisieren, um möglichst viele Arbeitsplätze zu erhalten. Bei laufendem operativem Betrieb umzubauen und zu erneuern, wäre aber ein Albtraum geworden und hätte keine Perspektiven für weiteres Wachstum geboten. Und Stuttgart liegt leider nicht in der Mitte von Deutschland, sodass wir unsere Kunden im Norden über Nacht nicht zuverlässig hätten beliefern können.

Die Grundstückssuche im Osten lief dann erst einmal mühsam an.
Ja, wer hätte das gedacht! Zu unserer großen Überraschung fanden wir dort zunächst kein passendes Grundstück. So entstand gleich am Anfang ein Dreivierteljahr Projektverzug. Bei einem so bedeutenden Projekt und einer so wichtigen Frage wie der Standortfrage wollte ich aber keine Kompromisse eingehen. Jetzt kann ich sagen: Wir haben das beste Grundstück in Deutschland, das ich mir für unseren Zweck vorstellen kann: Größe, Lage, Autobahnanschluss, ­Arbeitsmarkt, Mentalität der Menschen − alles top.

Waren Ihre Gesellschafter überzeugt?
Unsere Rechnungen waren klar und eindeutig. Im März 2011 haben wir den Gesellschaftern unsere Projektpläne vorgestellt. Einen Monat später stand die Entscheidung. "Die Geschäftsführung wird mit dem Abschluss der erforderlichen Verträge und der Durchführung der entsprechenden Maßnahmen beauftragt", so lautet der Generalbeschluss in zwei Zeilen, der bis heute gültig ist − ein Vertrauensbeweis in unsere Arbeit, wie ich ihn mir besser nicht hätte wünschen können.

Was sind die strategischen Gewinne, die Sie mit Erfurt bekommen?
Zunächst sind das die Synergie-effekte zwischen Verlagsauslieferung und Barsortiment. Wir brauchen uns in der neuen Logistik 20 Prozent unseres Lagers nicht mehr ein zweites Mal hinzulegen. Diesen Effekt können übrigens auch andere nutzen, die sich für eine intensive Zusammenarbeit mit uns entscheiden. Unsere Logistikmannschaft können wir halbieren − eine extreme Kosteneinsparung. Auch die Vollintegration von Print on Demand ist wichtig: Während der Kundenauftrag durch unsere Logistik läuft, wird der PoD-Titel just in time hergestellt, und am Ende kommt dann das warme, frisch gedruckte PoD-Buch noch hinzu.

Mit welchem Titelangebot kann der Buchhandel in Zukunft rechnen?
Schon 2011 haben wir unser neues Logistikkonzept auf über eine Million Artikel ausgerichtet. Dies scheint sich inzwischen entlang der Autobahn A4 herumgesprochen zu haben. Unser Angebot wird im nächsten Jahr mit dem Hochfahren der Volumina entsprechend den Anforderungen unserer Kunden deutlich erweitert. Wir unterstützen nicht nur die Entwicklung der für unsere Kunden notwendigen Metadatenbank, sondern bieten hierfür auch das passende Großhandelslager.

Welche Effekte werden Sie für den E-Commerce schaffen?
In Erfurt sind wir in unmittelbarer Nähe der leistungsfähigsten Paketverteilzentren Deutschlands. Die Einlieferungszeiten werden sich um vier bis sechs Stunden Richtung 22 Uhr verlängern, sodass wir unsere Leistung für Next Day Delivery deutlich verbessern werden. Das ist ein enorm wichtiger Faktor, um ein guter Partner im E-Commerce zu sein.

Von welchen Marktveränderungen gehen Sie mittelfristig aus?
Wir nehmen eine Wachstumsentwicklung im Bereich der Verlagsauslieferung an. Da stehen wir mit unserer Leistungsfähigkeit schon sehr gut da und werden diese weiter ausbauen. Noch gibt es viele Verlagsauslieferungen in Deutschland. Wir rechnen hier mit einer weiteren Konzentrationsbewegung.

Und der Gesamtbuchmarkt?
Bezogen auf die zehn Milliarden für Print und Digital, gehe ich von einer Stagnation oder sogar Reduzierung aus. Insbesondere dann, wenn der Preisdruck auf elektronische Bücher anhält. Es ist für mich völlig unverständlich, wie man sich so selbst schädigen kann, indem man die Wertigkeit eines gedruckten Buchs dadurch torpediert, dass man E-Books unangemessen billig macht. Wer sein Standbein der Rendite so behandelt, schießt sich selbst ins Knie. Wozu eine unangemessene Fokussierung auf niedrigpreisige Artikel führt, haben wir ja in Augsburg erlebt. Die Preisentwicklung des Buchs in den letzten 20 Jahren in Deutschland ist katastrophal und eines unserer größten Branchenprobleme. Wir hätten es alle deutlich einfacher, wenn wir bei den Ladenpreisen mutiger wären: ruhig mal etwas weniger Umsatz und Auflage, aber dafür mehr Rendite.

Gesamtmarkt rückläufig − aber Sie brauchen in Erfurt Wachstum. Woher wollen Sie das holen: aus anderen Märkten? Oder vom Wettbewerb?
Wir haben unsere Logistik so konzipiert, dass wir hochflexibel sind, um auch Funktionen in buchhandelsähnlichen Märkten und Strukturen anbieten zu können. Natürlich haben wir auch unseren Wettbewerb im Blick. Unsere Strategie in einem Satz: In einem rückläufigen Buchmarkt wollen wir in Zukunft nicht nur Leistungs-, sondern auch Kostenführer sein. Weil wir früher zu hohe Kosten hatten, hat uns der Wettbewerb immer wieder hart zugesetzt. Wir werden uns zukünftig Marktanteile nicht mit Dumpingpreisen erkaufen, aber wir werden preislich dem Wettbewerb Paroli bieten und dabei auch noch Geld verdienen.

Nach der Standortentscheidung Erfurt blieben laute Mitarbeiterproteste bisher aus. Das ist ungewöhnlich. Haben Sie dafür eine Erklärung?
Wir sind mit unseren Mitarbeitern fair umgegangen und haben diese schon im Mai 2011 über unsere Planungen informiert. Über Monate wurden Alternativen offen und transparent diskutiert. Am Ende wurde ein guter Sozialplan und Interessenausgleich ausgehandelt. Damit haben wir Verständnis für unsere Entscheidung geschaffen. Wir haben für unsere Mitarbeiter Programme zur Weiterqualifizierung und Bewerbungstrainings durchgeführt. Wer hier bei uns von Bord geht, hat extrem breite und heterogene Kunden- und Auftragsstrukturen kennengelernt und ist hoch qualifiziert und für andere Logistikbereiche attraktiv. Und der Arbeitsmarkt in Stuttgart und Köln ist, schwäbisch gesagt, zur Zeit "ned schlecht".

Kommen Ihre Mitarbeiter denn tatsächlich unter?
Ich glaube, ja, aber das lässt sich derzeit noch schwer sagen, denn die meisten Mitarbeiter wollen bei uns bis zum Schluss bleiben und die Sache gut zu Ende bringen. Wir erfahren hier eine tolle Loyalität, für die ich meiner Logistikmannschaft sehr dankbar bin. Ich werde mich mit meinen umfassenden Kontakten in der Region persönlich bei anderen Unternehmen dafür einbringen, dass unsere Mitarbeiter dort gehört und möglichst auch aufgenommen werden.

Sie haben Unternehmensleitlinien formuliert. Oft sind das austauschbare Texte, die von erwachsenen Menschen als "Lyrik" zu den Akten genommen werden. Warum dennoch Leitlinien?
Ihre Skepsis hatte ich anfangs auch. Aber wenn man ein Unternehmen mit 1 000 neuen Mitarbeitern in Erfurt aufbaut, dann kann ein verbindliches Wertesys­tem sehr hilfreich sein. Hinter den Leitlinien liegt ein Schulungs­konzept. Ein Bestandteil dessen ist auch, dass wir unter professioneller Moderation mit den Mitarbeitern erarbeiten, was das etwa für den Arbeitsplatz im Wareneingang bedeutet. Unsere Leitlinien wollen wir mit Leben füllen und werden sie in den nächsten Monaten immer wieder thematisieren. Entscheidend bleibt aber, dass Führungskräfte Vorbilder sind und zusammen mit unseren neuen Mitarbeitern eine starke Unternehmenskultur aufbauen. Dabei wollen wir die guten Werte aus unseren drei Jahrhunderten Unternehmenserfolg weiter pflegen.

Wertschätzung, Regeln für Feedback, prozessorientiertes Arbeiten − klingt alles nicht so neu.
Wir wollen nicht in eine Situation "Die in Erfurt − die in Stuttgart" hineingeraten, sondern über die Distanz trotzdem eine Mannschaft. Unsere Leitlinien sind auch strategiebasiert. Ein Beispiel: "Wir sichern Qualität über die gesamte Supply Chain ab." Uns kümmert eben nicht nur der Prozess von Rampe zu Rampe in unserer Logistik, sondern wir interessieren uns auch für die Prozesse davor und danach, also vom Verlag bis zu uns und von uns bis zum Händler oder bis zum Endkunden. Manchmal fehlt uns in der Branche ein bisschen mehr "Wir". Vieles könnte professioneller gelingen, wenn sich zum Beispiel die Händler auch Gedanken machten, wie sie die Bedürfnisse ihrer Lieferanten besser berücksichtigen.

Klappt das in anderen Branchen denn besser als in der Buchbranche?
Ausgehend von der Automobilindustrie ist das für viele Branchen inzwischen eine Selbstverständlichkeit. Aber auch in der Buchbranche gibt es schon Unternehmen, die hier anders denken und handeln. 2007 haben wir mit Amazon den ersten externen Kaizen-Workshop gemacht. Im Vorfeld hatten wir die Sorge, dass daraus für uns eine riesige Anforderungsliste entsteht. Am Ende waren es auch 100 Punkte mit Verbesserungen, aber 60 Positionen standen auf der Seite von Amazon. Das hat mich beeindruckt. Es zeigt, wie intensiv man sich bei Amazon Gedanken darüber macht, welchen Beitrag man als großes Unternehmen auch selbst zu einem optimalen Gesamtprozess beisteuern kann.

Im Fast-schon-Rückblick gefragt: Stimmt "Jahrhundertprojekt"?
Auf jeden Fall! Wenn man sich unsere Firmengeschichte seit 1829 anschaut, gab es in der gesamten Zeit kein Projekt dieses Umfangs. Hier alles auf eine Karte zu setzen und innerhalb kürzester Zeit eine komplett neue Infrastruktur zu schaffen − das ist für uns in der Tat ein Jahrhundertprojekt.

"Für die nächsten hundert Jahre" wäre ja auch eine Lesart.
Die Geschichte zeigt, dass die KNV-Gruppe alle 50 bis 60 Jahre eine grundlegende Erneuerung durch neue Standorte erfahren hat. Ob das auch für KNV Logistik in Erfurt so sein wird, ist schwer vorauszusagen, aber wir sind davon überzeugt, dass unser Jahrhundertprojekt mindestens für die nächsten 30 Jahre passt. Mein Cousin und ich wollen der siebten Generation eine Infrastruktur übergeben, mit der unsere Nachfolger dann mindestens noch ein Jahrzehnt weiterarbeiten können.