Deutscher Jugendliteraturpreis

"Mehr Anerkennung für Jugendliteratur in diesem Land!"

6. Juli 2015
von Börsenblatt
Spannung im Congress Centrum: Die Kritiker- und die Jugendjury haben aus den von ihnen nominierten 30 Büchern die Sieger gekürt. Gewonnen haben "Akim rennt" (Moritz), "Königin des Sprungturms" (Beltz & Gelberg), "Wie ein unsichtbares Band" (Fischer KJB) und "Gerda Gelse" (Wiener Dom Verlag). Die Jugendjury kürte Raquel J. Palacios "Wunder" (Hanser), den Sonderpreis für Übersetzung erhielt Angelika Kutsch. Bundesjugendministerin Manuela Schwesig als Preisstifterin wandte sich gegen die Geringschätzung von Jugendliteratur.

In der Sparte Bilderbuch gewann Claude Dubois' "Akim rennt" (Moritz), ein ungewöhnlich berührendes zeichnerisches Werk, das Bundesjugendministerin Manuela Schwesig zuvor bereits als Beispiel für Aktualität von Jugendliteratur hervorgehoben hatte. Das Buch gewinnt wie die Siegertitel der anderen Sparten ein Preisgeld von 10.000 Euro. 

Die Kritikerjury begründet ihre Entscheidung: "Als der Krieg eines Nachmittags in Akims Dorf einbricht, ist mit einem Schlag nichts mehr, wie es vorher war. Die Bewohner fliehen aus den Trümmern ihrer Häuser und der kleine Junge wird von seiner Familie getrennt. Er gerät in Gefangenschaft, kann erneut fliehen und findet sich schließlich in der fragilen Sicherheit eines Flüchtlingslagers wieder. Die Form dieser Erzählung ist angemessen zurückhaltend. Der Text vermeidet Erklärungsversuche, während die Schwarz-Weiß-Zeichnungen das von Akim erlebte Grauen in schmerzhaft präzise Bilder fassen, wie sie auch im Skizzenbuch eines der Flüchtenden hätten stehen können. Die emotionale Intensität dieser Darstellungen wird durch eine überaus karge Bildsprache erreicht – die Zeichnungen wirken schemenhaft, wie hingeworfen in großer Eile, und doch ist jeder Strich treffgenau ausgeführt.

Der sachlich berichtende Text gibt dem Buch den Rhythmus vor, die Bilder nehmen den Faden auf und führen ihn (textlos) weiter, bis zur nächsten Unterbrechung durch eine Textpassage. In Bild und Text bleibt die Perspektive des kindlichen Protagonisten gewahrt: Der Text erklärt und kommentiert nur ganz sparsam, vor allem beschreibt er, was Akim geschieht. Erzähltempus ist durchgängig das Präsens. Die Bilder gehen nicht nur inhaltlich über das im Text Gesagte hinaus, sie vermitteln auch mit größerer Intensität als der Text, wie schutzlos und verletzt der kleine Junge ist: Die Folge der teils ausschnitthaften, teils panorama-artigen Darstellungen zeigt, wie Akims Welt plötzlich aus den Fugen gerät, nachdem an die Stelle der Vögel über seinem Dorf Bomberflugzeuge und an die Stelle der Wolken Rauchsäulen getreten sind. Das Grauen wird aber nicht naturalistisch ausgemalt oder mit einer überladenen Symbolik ausgestellt, sondern lediglich skizziert.

Auf diese Weise werden die Betrachter vom verstörenden Inhalt des Buchs nicht emotional überrumpelt, sondern erhalten die Gelegenheit, sich langsam anzunähern. Dazu passt auch das versöhnliche Ende der Geschichte, das Akim im Flüchtlingslager seine Mutter finden lässt."

In der Sparte Kinderbuch zeichnete die Kritikerjury Martina Wildners "Königin des Sprungturms" (Beltz & Gelberg) aus. Wie mutig Autorinnen sein können, zeigte Wildner mit ihrer Antwort auf die Frage von Moderatorin Vivian Perkovic, wie sie sich in die Welt des Turmspringens "eingearbeitet" habe: "Ich hab die meisten Sprünge und Saltos dann einfach mal ausprobiert."

Die Jurybegründung: "In diesem Roman wird in der Rückschau die Geschichte einer abgeschlossenen Mädchenfreundschaft erzählt. Die Freundschaft als gescheitert zu bezeichnen, wäre nicht richtig, denn beide Mädchen profitieren auch von der Trennung. Nüchtern und präzise berichtet die Ich-Erzählerin von ihrer Faszination durch die schweigsame Karla und der gemeinsamen Leidenschaft für das Turmspringen, von Verbundenheit und Konkurrenz, von ihrem Wunsch, die Freundin zu verstehen und dem Verlust der gemeinsamen Basis, der sich als Folge der Aufdeckung ihres Geheimnisses zwangsläufig einstellt. So bewirken ihre rastlosen Versuche, mehr Nähe und Vertrautheit herzustellen, letzten Endes das Gegenteil – sie bringen Karla an einen Punkt, an dem sie nicht mehr in der Lage ist, zu verbergen, was sie quält, und darum ihre bisherigen Schutzhandlungen einstellen kann. Diese bildeten aber den Kitt in der Beziehung zur Ich-Erzählerin.

Der lakonische Erzählton und die zurückhaltende, weithin szenische Erzählweise lassen den Rezipienten viel Raum zur eigenständigen Konstruktion der Figurenpsychologie – die Spannung gründet auf dem Rätsel um die Figur Karla. Diese Form des psychologisch-realistischen Erzählens ist in der Kinder- und Jugendliteratur wenig verbreitet, der Roman hat also ein hohes Innovationspotenzial.Das Milieu des Leistungssports und die offenbar postsozialistische Plattenbauwelt, in der die beiden Mädchen zuhause sind, bilden einen stimmig und atmosphärisch dicht wirkenden Rahmen des Romans – sie werden aber nicht zum Thema ausgewalzt.

Eine virtuos konstruierte Erzählung an der Grenze zwischen Kinder- und Adoleszenzroman."

In der Sparte Jugendbuch kürten die Juroren Ines Garlands ""Wie ein unsichtbares Band" (Fischer KJB). Ihre Begründung: "Der Roman handelt im Argentinien der 1970er-Jahre. Eine erwachsene Ich-Erzählerin lässt die Ereignisse ihrer Kindheit und frühen Jugend wieder lebendig werden: Die behütete Tochter einer wohlhabenden Familie aus Buenos Aires findet in dem ländlichen Wochenend- und Feriendomizil der Eltern ihr persönliches Paradies, das sie an der Seite der beiden Nachbarskinder durchstreift. Als die drei ungleichen Freunde älter werden, geht ihre Verbundenheit verloren. Die große Gefahr, die ihren Freunden droht, erkennt die Erzählerin nicht, denn sie lebt wie unter einer Glasglocke, die sie von den sozialen und politischen Realitäten abschirmt. In dieses Leben bricht der Terror des Militärregimes – dem ihre beiden Freunde schließlich zum Opfer fallen – wie eine Naturkatastrophe hinein.

Der Roman wird weithin aus der Sicht des erlebenden Ichs erzählt, mit einem elegischen Unterton und knapp dosierten Reflexionen der erwachsenen Erzählerin. Besonders im ersten Teil besticht die fast intime Nähe zu den dargestellten Landschaften, Figuren und Ereignissen – die Erzählerin nimmt sich Zeit, um den Eindrücken ihrer Kindheit sprachlich nachzuspüren. Der so entstehende fließende Rhythmus wie auch die sinnliche Qualität ihrer Schilderungen werden in der Übersetzung sehr gut wiedergegeben. Die Landschaft am Río de la Plata bestimmt nicht nur das Kolorit der erzählten Welt, sie prägt auch die Sprache dieses Romans und bildet metaphorisch die Perspektive des erinnernden Ichs ab – die erinnerten Bilder sind unscharf wie Wasserspiegelungen und ihre Folge mäandernd wie der Lauf des Flusses.Im zweiten, die politischen Entwicklungen thematisierenden Teil des Romans wird der Erzählton etwas distanzierter, während das Geschehen unaufhaltsam auf seinen katastrophalen Ausgang zusteuert. Auch wenn die Stimme der erwachsenen Erzählerin etwas mehr zu vernehmen ist als im ersten Teil, bleibt die Perspektive des verzweifelt um seine Liebe kämpfenden, angesichts der Übermacht von Unrecht und Gewalt zutiefst verstörten jungen Mädchens bestimmend.

Durch diese Erzählweise gewinnt der Text ein hohes Maß an Spannung und Eindringlichkeit."

In der Sparte Sachbuch gewann "Gerda Gelse" (Wiener Dom Verlag) von Heidi Trpak und Laura Momo Aufderhaar, ein Werk, das in Kartoffeldruck realisiert wurde. Die Jury begründet: "Die Stechmücke Gerda Gelse gehört einer gemeinhin wenig geschätzten Spezies an, für die dieses originell gestaltete Sachbilderbuch um Verständnis wirbt. Die Illustratorin verwendete Gräser und andere Pflanzenteile als Druckstöcke, um die zarte Gestalt des Insekts ins Bild zu setzen. Im Verein mit der bisweilen fast poetisch wirkenden Sprache trägt diese Art der Visualisierung dazu bei, die ästhetische Dimension des Gegenstands erfahrbar werden zu lassen. Dabei wird jede Verniedlichung konsequent vermieden und ein hoher zoologischer Informationsgehalt erreicht. Dass der Text teils erzählend, teils sachlich darstellend daherkommt, eröffnet unterschiedliche Möglichkeiten der Rezeption. Auf diese Weise bietet das Buch Betrachtern im Vorschulalter und darüber hinaus in Bild und Text anschaulichen Wissenserwerb und anregende Unterhaltung in einem Verhältnis, das diese selbst bestimmen können.

Das in jeder Hinsicht gelungene Werk über ein Tier, mit dem wohl jedes Kind schon einmal in 'Berührung' kam, spricht die Neugier und Entdeckerfreude der Betrachter an und fördert eine aufgeschlossene Haltung gegenüber der Natur."

Die Auswahl der Kritikerjury sei nicht nur für geübte Leser - gerade die diesjährigen Nominierungen "sind gut lesbar, präzise in ihrer Bildsprache, treiben ein Spiel mit der Rhythmisierung von Sprache, aber sie nehmen sehr wohl Rücksicht auf die Entwicklung der Leser", betonte Stephanie Jentgens, Vorsitzende des Arbeitskreises für Jugendliteratur. Die Nominierten stammen aus zwölf Ländern und wurden im vergangenen Jahr erstmals auf Deutsch oder in deutscher Übersetzung veröffentlicht.

Die Jugendjury kürte als Gewinner Raquel J. Palacios "Wunder" (Hanser) und begründet: "Wann immer August, genannt Auggie, aus dem Haus geht, begegnen ihm entsetzte oder mitleidige Blicke. Kleine Kinder haben Angst vor ihm, man tuschelt hinter seinem Rücken. Deshalb hat er die Öffentlichkeit bisher gemieden. Doch nun, mit zehn Jahren, soll er endlich die Schule besuchen.
Auch dort begegnet man ihm mit Abscheu, niemand möchte mit ihm zu tun haben. Doch er findet zwei Freunde, Summer und Jack, auf die er sich scheinbar verlassen kann. Allerdings macht die Freundschaft mit Auggie auch diese beiden zu Außenseitern, womit sie unterschiedlich umgehen. August kämpft um Anerkennung – unterstützt von seinen neuen Freunden und seiner Familie.
Dieses Buch begeistert alle Altersgruppen. Das oft genutzte Motiv, dass es auf die inneren Werte ankommt, wird hier neu und ohne mahnenden Zeigefinger umgesetzt. Durch wechselnde Perspektiven kann der Leser nicht nur die Gefühle und Handlungen Auggies, sondern auch die seines Umfeldes verstehen. Der Leser entwickelt sich mit den sympathischen Charakteren. Die flüssige Sprache und die zahlreichen Details lassen die Geschichte persönlich und lebensnah wirken. Der Roman berührt den Leser und regt zum Nachdenken an."

 

Börsenvereinsvorsteher Heinrich Riethmüller erinnerte sich an Begegnungen mit Astrid Lindgren in der Buchhandlung seiner Eltern, wie ihn die Autorin beeindruckt  habe. Und wies darauf hin, dass er als Buchhändler den Wert des Deutschen Jugendliteraturpreises zu schätzen wisse, weil er auf wichtige Titel aufmerksam mache. Als Orientierungsgeber sieht die Preisstifterin, Bundesjugendministerin Manuela Schwesig, den Preis. Schwesig hob die Aktualität der Bücher hervor, die auch die politische Dimension der Titel nicht ausspart: "'Akim rennt' zum Beispiel gibt eine Ahnung davon, was Flüchtlingsein bedeutet.  Oft jedoch würden Kinder- und Jugendbücher unterschätzt − "dabei stecken häufig die wirklich spannenden Geschichten in diesen Kinder- und Jugendbüchern." Ihr Appell: "Ich wünsche mir mehr Anerkennung für Jugendliteratur in diesem Land!"

"Meine Lieblingsbücher ziehen sich durch mein Leben, manche kaufe ich immer wieder, auch Kinder- und Jugendbücher", erzählte Buchmesse-Direktor Juergen Boos. Unter Applaus wies Boos auf die Zunkunft hin: "Die Kinder sind unser Fachpublikum. Wenn sie nicht da sind, nicht lesen, dann brauchen wir nicht mehr da sein. Ich wünsche mir für nächstes Jahr noch viel, viel mehr Kinder auf der Buchmesse."

Den Sonderpreis für Übersetzung erhielt Angelika Kutsch. Bereits 38 Mal war sie nominiert, die Liste ihrer Veröffentlichungen ist unglaublich lang, sie hat "Petterson und Findus" nach Deutschland gebracht, übersetzt Ake Edwardson - und eigentlich dachten wir, Kutsch hätte ihn schon längst erhalten", begann die Vorsitzende der Sonderjury, Gabriele Haefs, ihre Würdigung. "War aber nicht so. Nun hat sie ihn."

Die ausführliche Jurybegründung zu Kutsch finden Sie auf der Website des Arbeitskreises für Jugendliteratur.