Interview mit Jakob Augstein

"Nichts verschwindet ganz"

16. Juli 2015
von Börsenblatt
Was wird aus den gedruckten Medien? Werden Nachrichten-"Blätter" und physische Bücher verschwinden? Welche neuen Leseräume können E-Books öffnen? Und was kann man eigentlich gegen die großen Monopolisten wie Amazon tun? boersenblatt.net hat auf der Buchmesse mit Jakob Augstein, Chefredakteur des "Freitag", über das Spannungsfeld zwischen analoger und digitaler Medienwelt gesprochen.

Matthias Müller von Blumencron hat kürzlich in der FAZ geschrieben: Schafft den Online-Journalismus ab! Wie muss Journalismus im digitalen Zeitalter aussehen, um sich vom kaum kontrollierbaren Informations- und Meinungsstrom abzuheben?
Je vielstimmiger das Konzert ist, und je mehr Menschen sich daran beteiligen, desto wichtiger ist das Vertrauen in den Autor und in die Integrität des Textes. Und daraus leitet sich auch die Stärke einer journalistischen Marke ab. Das Internet ist zwar ein Ort der Freiheit, aber andererseits auch ein Raum der Monopolisierung, in dem der Stärkere über den Schwächeren siegt. Wir erleben die Ära der starken Marken, die alles aufsaugen. In den 20 Jahren, in denen Deutschland am Netz ist, ist kein interessantes, erfolgreiches Netzmedium entstanden außer dem Perlentaucher, der ein Aggregationsportal ist und einen festen Platz in der Medienlandschaft gefunden hat. In den USA hat man eine völlig andere Situation mit starken Online-Marken wie Slate, Politico oder Huffington Post. In Deutschland prägen nach wie vor die großen Player der Vergangenheit den Markt und fragen sich, wie sie ihre Angebote künftig finanzieren wollen. Blumencrons Artikel war deshalb richtig, weil er die Leute auf etwas aufmerksam gemacht hat, was schnell übersehen wird: Es gibt keinen Online-Journalismus. Es gibt viele Unterarten des Journalismus, aber letztlich geht es immer um die Frage: guter oder schlechter Journalismus.

Wie sieht denn die Zeitung von morgen aus? Was muss sie in Print, was online leisten?
Die Antwort darauf hängt von der Positionierung der jeweiligen Zeitung ab. Bei Wochentiteln wird die Arbeitsteilung gut funktionieren: Die Druckausgaben werden meistens am Wochenende gelesen, während online aktuell informiert wird. Bei Tageszeitungen ist die Arbeitsteilung wesentlich unklarer: Man könnte zwar alle Inhalte ins Netz verschieben, aber das würde wirtschaftlich nicht funktionieren. Zudem ist der personelle Aufwand bei einer Tageszeitung wesentlich höher als bei einer Wochenzeitung. Dennoch werden bald auch in Deutschland die ersten Tageszeitungen dazu übergehen, ihre Printverbreitung zu reduzieren und vermehrt online zu publizieren. Die ganze Branche darf gespannt darauf sein, welche Erlösmodelle hier eingesetzt werden. Doch nicht nur die Geschäftsmodelle müssen angepasst werden, sondern auch die Arbeitsstruktur. Springer hat dies mit seinem Newsroom, in dem Online- und Printnachrichten parallel produziert werden, vorgemacht. Um diese Strukturveränderung kämpft der "Spiegel" gerade. Die Konflikte, die da ausgetragen werden, werden stellvertretend für die gesamte Branche ausgetragen. Die Veränderung wird aber nur gelingen, wenn man sich von gewohnten Strukturen verabschiedet.

Kommen wir zu Büchern. Der Philosoph Byung-Chul Han hat in seinem Vortrag bei der "Script" Opening Night der Frankfurter Buchmesse gesagt, dass es künftig nicht mehr auf den Besitz von Büchern, sondern auf den Zugang zu den Inhalten ankommt. Wird das Buch, wie wir es heute kennen, allmählich verschwinden?
Nichts verschwindet ganz – weder die gedruckte Zeitung noch das gedruckte Buch. Wir wissen aus der Mediengeschichte, dass kein neues Medium die alten verdrängt hat, sondern sich neben die bisherigen gestellt hat. Bücher wird es auch deshalb künftig geben, weil sie sehr praktisch sind. Aber es lohnt sich immer weniger, Gesamtausgaben zu verlegen, wenn man diese für Null Euro bei Amazon herunterladen kann. Vieles wird es daher künftig nur noch antiquarisch geben. Die Internationalisierung des Buchgeschäfts sowohl auf der Produzenten- als auch auf der Anbieterseite schreitet voran. Amazon ist überall und kann große Deals machen. Wir beobachten zudem eine Angleichung der Erzählstile. Es gibt eine amerikanische Technik des Erzählens, die geschlechts- und altersübergreifend funktioniert - und zwar sehr professionell. Das funktioniert nach dem Muster "Nicht zu viel Sex, nicht zu viel Gewalt, nicht zuviel politische Aberration". Damit lassen sich sehr große Leserschichten ansprechen. Das sind Titel, die große Teile des Lese-, des Zeit- und des Geldreservoirs der Menschen aufsaugen. Die Folge dieser Entwicklung ist die Zentralisierung und Monokulturalisierung des Buchmarkts. Im Nischenbereich hingegen werden andere Marktsegmente aufgehen. So werden auch nicht alle Buchhandlungen verschwinden: Kleine, feine Sortimente in den Städten werden bestehen bleiben. Allerdings findet in der Fläche eine Verarmung statt.

Über das E-Book wird immer gesagt, dass es mimetisch sei: Es versuche, das gedruckte Buch abzubilden. Andererseits erwarten kleine, engagierte E-Book-Verleger, dass durch das Medium neue Leseräume und –erfahrungen geschaffen werden?
Die neuen Leseerfahrungen können natürlich kollektive Leseerfahrungen sein, wie dies etwa Sascha Lobos Plattform Sobooks vorführt. Ich glaube aber, dass es sehr schwer sein wird, sich mit solchen Ansätzen gegen Amazon durchzusetzen – weil Amazon als Monopolanbieter sehr stark ist, und auch technisch so gut funktioniert. Den meisten Menschen, die darüber reden, ist gar nicht klar, welcher technologische Aufwand hinter den funktionierenden Oberflächen betrieben wird. Das erklärt unter anderem, weshalb die Eintrittsschwelle für kleine Anbieter im digitalen Markt so hoch ist. Um mit den Großen mithalten zu können, müsste man sehr viel Geld investieren. Das Bewusstsein, dass digitale Medien und das Internet auch als Kontrollinstrumente dienen, könnte aber auch eine Rückbesinnung auf analoge Medien bringen. Und dann könnte den Buchhandlungen als analoger Schutzraum eine wichtige Rolle zukommen.

Diese Offline-Bewegung will ja auch die Buchkultur, wie wir sie kennen, erhalten. Amazon hingegen bringt mit seiner E-Book-Flatrate eine ganz andere Art von Literatur unter die Leute, sehr viel selbstpublizierte Titel und kaum Bücher aus den etablierten Verlagen …
Das ist aber nicht schlimm. Die Entscheidung des Lesers ist immer richtig, denn es ist seine Entscheidung. Sie können natürlich durch Bildungs- und Handelspolitik Rahmen setzen, innerhalb derer sich die Leser und Konsumenten so entwickeln, wie sie es haben wollen. Das ist eine durchaus wichtige Gesellschaftssteuerung. Aber die Entscheidung des Lesers müssen Sie immer respektieren. Sie können ihm nicht die Verantwortung für den Wandel der Geschäftsmodelle oder gar den Untergang der westeuropäischen Kultur zuschieben.

Wie könnte die Branche überhaupt etwas gegen Amazon tun?
Durch die Politik. Sie kann über das Steuerrecht, über das Persönlichkeitsrecht und das Datenschutzrecht den amerikanischen Datenriesen ordentlich Paroli bieten. Aber sie zögert, weil sie innerhalb Europas unsicher ist. Amazon soll in Luxemburg gerade einmal ein Prozent Steuern auf seine europäischen Gewinne zahlen. Das ist seit 2003 so, und jetzt, im Jahr 2014, findet die Europäische Kommission das nicht mehr in Ordnung und will dagegen vorgehen. Das Politikversagen an dieser Stelle ist eklatant. Die Politik hat nicht begriffen, dass die großen Konzerne länderübergreifend arbeiten, während die Regulierung meist auf nationaler Ebene geschieht. Die Länder haben sich in einen Standortwettbewerb begeben, den die großen Konzerne weidlich ausgenutzt haben. Es ist ganz klar ein Versagen unseres Systems. Und deshalb müssen die Verlage Druck auf die Regierung und die EU ausüben, um etwas zu tun – etwa beim Datenschutz. Wenn das deutsche Datenschutzrecht für Amazon gelten würde, dann wäre die Hälfte des Geschäftsmodells hinfällig. Dass die Politik nicht handelt, hat etwas mit ihrer Selbstentmachtung gegenüber der Wirtschaft zu tun.

Erwarten Sie, dass sich in der Gesellschaft Widerstand gegen diese Entwicklung formieren wird?
Ich glaube nicht, dass es in diesem Fall gelingt, den Protest zu bündeln. Das funktioniert nur, wenn man einen sichtbaren Sachverhalt hat wie „Stuttgart 21“. Datenautonomie ist zu abstrakt, und außerdem hat man als Konsument einen echten Nachteil, wenn man aus dem digitalen Ökosystem aussteigt. Hier müsste der Staat seine Fürsorgepflicht walten lassen, wie er das sonst auch für die elementare Grundversorgung tut.

Glauben Sie, dass Literatur, dass engagierte Bücher wie „The Circle“ von Dave Eggers, ein Bewusstsein für die Abhängigkeiten in der digitalen Welt schaffen kann?
Ich glaube, dass Literatur eine zentrale Rolle spielt. Bücher wie das von Eggers werden zu Kristallisationspunkten für Debatten. Sie fassen etwas zusammen, was nicht richtig greifbar ist, und die Debatte konvergiert um das Buch herum. Man braucht Zentren der Debatte. Das können auch Personen sein wie Frank Schirrmacher es war oder Projekte wie „Frankfurt Undercover“ auf der Frankfurter Buchmesse.

Interview: Michael Roesler-Graichen