Interview mit Peter Longerich über seine neue Hitler-Biografie

"Die Auseinandersetzung mit der Figur ist in keiner Weise abgeschlossen"

10. November 2015
von Börsenblatt
Adolf Hitler wird noch viele Historiker-Generationen beschäftigen. Peter Longerich zeigt in seiner neuen Biografie, wie der Diktator den politischen Aufstieg gezielt gesteuert hat.

Eine neue historische Darstellung Adolf Hitlers wird nicht nur an ihren eigenen Ansprüchen, sondern auch an den großen Vorgängern gemessen. Was unterscheidet Ihre Biographie beispielsweise von denen Joachim Fests und Ian Kershaws?
Die Biographie von Fest ist glänzend geschrieben, und ihr Autor war ein brillanter intellektueller Kopf, aber sie ist heute aus fachhistorischer Sicht – sowohl, was den Aufbau als auch die Fragestellung anbelangt – vollkommen überholt. Daran kann man sich nicht mehr reiben. Das entscheidend wichtige Buch ist nach wie vor die zweibändige Biografie von Ian Kershaw, die jetzt über 15 Jahre alt ist. Dieses Buch war für mich die Herausforderung. Der Unterschied  zu meinem Buch  besteht darin, dass Kershaw in erster Linie versucht, die Figur aus dem System heraus zu erklären: Hitler als charismatische Figur, die auch von diesem Charisma historisch abhängig ist, also jemand, der vor allem eine historische Rolle spielt, während ich der Figur mehr Handlungsspielraum gebe.

Hitlers Leben und Wirken mündete in eine der größten, wenn nicht die größte Katastrophe der modernen Geschichte. Zeichnete sich dies bereits früh in seiner Biografie ab?
Eine Biografie nimmt sich ja in der Regel vor, in einem Lebenslauf eine gewisse Logik und Konsequenz nachzuzeichnen. Wenn man es mit jemandem zu tun hat, der ein riesengroßer Verbrecher war und eine Menschheitskatastrophe angerichtet hat, dann kann man mit diesem Verfahren schnell in eine Sackgasse geraten. Angelegt ist vieles schon in der frühen Persönlichkeit Hitlers: Da ist dieser Hang zum Größenwahn; das Nichtvorhandensein menschlicher Bindungen, die mit megalomanen Phantasievorstellungen kompensiert werden; das Nichtverkraften-Können von Niederlagen – um nur einige Beispiele zu nennen. Daraus jetzt eine Zwangsläufigkeit abzuleiten, halte ich für überzogen. Dazu gibt es in Hitlers Leben wie in den meisten anderen Leben zu viele Brüche, Wendepunkte und Zufälle.

Waren die persönliche Eigenschaften der Schlüssel für Hitlers Aufstieg?
Einerseits ja, andererseits gilt es die Zeitumstände zu berücksichtigen. Ohne die besondere Situation im München des Jahres 1919 und in den folgenden Jahren, ohne die Krise der frühen 30er Jahre hätten sich die Charakterzüge nicht in dieser Art und Weise entwickeln können.

Wie konnte es Hitler gelingen, einen so umfassenden und ziemlich effizienten Machtapparat aufzubauen?
Hier kommen zwei Dinge zusammen: In dem rechtsextremen Milieu, in dem er sich in den 20er Jahren bewegte, war die Idee eines übermächtigen Führers, dem man sich unterordnet, vorherrschend. Hitler verstand es, sich so zu präsentieren, dass die Wahl auf ihn fiel. Und die schon erwähnten exzentrischen Persönlichkeitsmerkmale wurden von seinen Anhängern geradezu als Tugenden empfunden und entsprachen ihrer Erwartungshaltung. Dazu kommt aber nun Hitlers außerordentliches politisches Geschick. Um die Rolle des „Führers“ einnehmen und die Macht „ergreifen“ zu können, verfolgte er in den Jahren 1930 bis 1933 verschiedene Strategien teils parallel, teils in abruptem Wechsel – um letzten Endes durch eine Kombination dieser Strategien an die Macht zu kommen. Es war also nicht so, dass Hitler quasi als „Selbstläufer“ von seiner begeisterten Anhängerschaft an die Macht getragen worden wäre.

Er hatte einen untrüglichen Instinkt für Opponenten in den eigenen Reihen …
Er hatte ein außergewöhnliches Gespür für Loyalität und einen Mangel an Loyalität, und eine Begabung dafür, Opponenten gegeneinander aufzustellen und diese sich aneinander abarbeiten zu lassen. Diese Fähigkeit hat mit dieser überaus großen Sensiblität zu tun, mit der er öffentliche Blamagen, geschweige denn Niederlagen unter allen Umständen zu verhindern suchte.

Hitler gab nicht nur die großen Linien seiner Politik vor, sondern griff auch in Details der Gesetzgebung und Staatsführung ein. Können sie ein eklatantes Beispiel nennen?
Es ist ein allgemeiner Trend der Forschung der letzten Jahre, dass sich Hitler nicht nur um die großen Linien der Politik gekümmert hat, sondern tatsächlich selbst in vielen Fällen interveniert hat. Eines der eklatantesten Beispiele ist der Putsch in Österreich 1934, bei dem die Forschung bis vor wenigen Jahren immer davon ausgegangen war, dass dieser Putsch zustande kam und misslang, weil zwei österreichische NS-Führer miteinander konkurrierten und Hitler die Dinge laufen ließ. Nun haben wir aber – und das ist ganz typisch für die Neubewertung dieser Vorgänge in der Forschung – in den Goebbels-Tagebüchern ein Zitat, das ganz eindeutig zeigt, dass Hitler dieses äußerst riskante Vorgehen in Wien so befohlen hat. Er hat sich dann, als der Putsch misslang, davon natürlich distanziert.

Bei Hitler zeigt sich, wie wichtig der mediale Auftritt für seinen Aufstieg war: als Redner auf Propagandaveranstaltungen, als Autor von „Mein Kampf“, bei Rundfunkübertragungen via „Volksempfänger“. Hatte Hitler seinen Erfolg auch der medialen Selbstinszenierung zu verdanken?
Eindeutig ja. Schon seine früheren Rednerauftritte hat er sehr sorgfältig inszeniert. Aufgrund seiner künstlerischen Interessen hatte er ein ausgesprochenes Faible für Bühnenbildner sowie Theaterinszenierungen und Theaterarchitektur. Das spiegelte sich natürlich auch in diesen Auftritten wider – wenn sie etwa an den feierlichen Einzug, die Dekoration und so weiter denken. Die Bilder, die wir von Hitler und den Massen im Kopf haben, sind Bilder, die von Hitler maßgeblich mit inszeniert worden sind. Er hat auch das öffentliche Bild von sich selbst unmittelbar kontrolliert, in dem er die Aufnahmen seines Leibfotografen Hoffmann selbst zensiert und ausgewählt hat. Deshalb begegnet er uns immer wieder in den gleichen Posen.

Ist es wahrscheinlich, dass sich eine historische Gestalt mit der Machtfülle und dem Vernichtungswillen eines Adolf Hitler wiederholt?
Es gibt natürlich in der Geschichte keine 1:1-Wiederholung von Ereignissen oder Personen. Was man aber an der Figur Hitler lernen kann: Wie schnell jemand in einer Krisensituation in der Lage ist, die vorgefundenen Ausgangsbedingungen völlig zu verändern und in seinem Sinne umzuformen – und der gesamten Politik des Landes eine radikale, auch durch seine Persönlichkeit geprägte Richtung zu geben.

Könnte die kommentierte Ausgabe von „Mein Kampf“, die vom Institut für Zeitgeschichte herausgegeben wird, zu einer besseren Einschätzung dieses (Mach-)Werks und der Person Hitlers in der breiten Öffentlichkeit beitragen?
Dieser Edition sehe ich mit großen Erwartungen entgegen. Ich erhoffe mir, dass der Prozess der Niederschrift von „Mein Kampf“ so detalliert rekonstruiert wird, dass man eine Verbindung zu den Ereignissen und Themen herstellen kann, die in dem jeweiligen Monat aktuell waren. Interessant wird sein, was die Herausgeber über die „intellektuellen“ Quellen Hitlers herausfinden werden – zum Beispiel die Konzeptionen des „Lebensraumes“ oder der „Rassenhygiene“. Die entscheidende Frage für mich ist dabei, wie Hitler es geschafft hat, all diese Ideen zu einem politischen Prozess zu formen. Dieses Buch ist nicht im stillen Kämmerlein entstanden, sondern während der Haft und der Zeit nach der Haft. Es ist also nicht nur eine programmatische Schrift, sondern das Buch eines Politikers, der darum kämpft, eine Position im politischen Leben zu erobern.

Warum fasziniert manche immer noch eine historische Gestalt, die monströse Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat?
Diese Verbrechen erscheinen uns heute fast unerklärlich. Man kann sich nicht vorstellen, dass von unserem Land vor zwei, drei Generationen solche Verbrechen ausgegangen sind – zumal es sich um ein zivilisiertes Land mit hohen Rechtsstandards gehandelt hat. Der Einbruch dieser extrem fanatischen Bewegung in die Geschichte unseres Landes ist etwas, das nach Erklärungen schreit.

Zum Zeitpunkt, zu dem Ihr Buch erscheint, läuft in den Kinos die Verfilmung von „Er ist wieder da“. Gibt es eine durch Satire und historischen Wissensdurst kaschierte Hinwendung zu Hitler als neuer, durch Fiktionalisierungen gleichsam virtualisierter Kultfigur?
Wenn man die Reaktionen der Leute auf das öffentliche Auftreten der Hitler-Figur sieht – wobei man nicht genau zwischen Inszenierung und Dokumentation unterscheiden kann – dann mischen sich Ablehnung und Bewunderung, und die meisten Menschen haben wohl das Gefühl, dass hier eine Art Comedy aufgeführt wird. Der Horror, den die Figur verbreitet hat, ist offenkundig nicht mehr so präsent wie noch vor einigen Jahrzehnten. Das Tabu, sich mit ihr auch „spielerisch“ zu beschäftigen, existiert nicht mehr, und es werden neue Formen ausprobiert, wie man sich dieser Figur annähern kann. Solche Trends zeigen ja, dass die Auseinandersetzung mit der Figur in keiner Weise abgeschlossen ist.

Peter Longerich: »Hitler. Biographie«. Siedler, 1.295 S., 39,99 €

Zur Person
Peter Longerich, Jahrgang 1955, ist Professor für moderne Geschichte am Royal Holloway College der Universität London und Gründer des dortigen Holocaust Research Centre. Seit 2013 ist er an der Arbeitsstelle »Antisemitismus« des Historischen Instituts der Hochschule der Bundeswehr in München tätig und bereitet derzeit eine Publikation zur Geschichte des modernen Antisemitismus vor.

Longerich ist als Autor zahlreicher Einzel- und Gesamtdarstellungen zur Geschichte des Nationalsozialismus hervorgetreten, bei Siedler erschienen zuletzt die Biografien »Heinrich Himmler« (2008) und »Joseph Goebbels« (2010). Er hat zudem am NS-Dokumentationszentrum in München die sogenannte Vertiefungsebene konzipiert, ist an Filmprojekten beteiligt und war als Gerichtsgutachter aktiv.