Die Sonntagsfrage

"Könnten Sie ohne Kunst leben, Herr Steidl?"

20. November 2015
von Börsenblatt
Der einzigartige Göttinger Verleger Gerhard Steidl feiert heute seinen 65. Geburtstag. In unserer Sonntagsfrage spricht er über sein Kunstverständnis, die Prinzipien seines Verlags sowie die Rolle von Kunst und Literatur als "geistiges Rüstzeug gegen jede Form der Barbarei".

Ja und nein. Ja, wenn es um Kunst geht, die sich nur an den Kriterien des Marktes orientiert. Ich habe absolut kein Interesse an den Werken, die für fantastisches Geld in einem völlig überhitzten Markt gehandelt werden. Das reizt mich nicht. Kunst als reine Geldanalage finde ich problematisch. Das erste Buch, das ich 1972 gemeinsam mit Klaus Staeck gemacht habe, hieß "Befragung zur documenta", und es kritisierte das elitäre Prinzip der Kunstschau. Wir wollten, dass auch die einfachen Arbeiter Kunst verstehen. Heute klingen solche Ideen sehr altmodisch und überholt, im Prinzip hänge ich diesem Gedanken aber immer noch an. Große Kunstwerke gehören in den öffentlichen Raum, nicht in den Safe eines Milliardärs. Meine Bücher folgen diesem demokratischen Prinzip: sie sind erschwingliche Galerien in Buchform, zugänglich für jedermann, weltweit.

Und nein, weil selbst, wenn ich weiß, dass es im Leben Situationen gibt, in denen Kunst nicht die wichtigste Rolle spielt, ich mir eine Welt ohne Kunst, ohne Musik, ohne Literatur nicht vorstellen kann und mag. Kunst, Musik und Literatur sind unser kulturelles Gedächtnis, unser geistiges Rüstzeug gegen jede Form der Barbarei. Kunst (aber das gilt ebenso für Literatur), die mich begeistert, hat immer auch einen aufklärerischen Aspekt. Sie stellt die richtigen Fragen, sie erschüttert Gewissheiten und wirkt wie nichts anderes gegen geistige Trägheit. Wir haben so unterschiedliche Stimmen in unserem Literaturprogramm wie die Nobelpreisträger Günter Grass und Halldór Laxness, Autoren wie Astrid Dehe und Achim Engstler oder Joachim Geil, die immer wieder historische Themen für ihre Literatur fruchtbar machen, und, jetzt im Frühjahr den jungen Shooting-Star der irischen Literatur, Colin Barrett, der so rau wie poetisch über irische Jugendliche erzählt. Zu uns in den Verlag kommen Künstlerinnen und Künstler aus der ganzen Welt. Sie kommen aus Angola, den USA, Japan, Frankreich oder Russland in die niedersächsische Provinz und bringen ihre Welt, ihre Kultur mit. Wenn wir gemeinsam die Bücher realisieren, lerne ich enorm viel von ihnen.

Der südafrikanische Fotograf Santu Mofokeng hat natürlich einen ganz anderen Blick als der Amerikaner William Eggleston. Roni Horns Bildsprache unterscheidet sich radikal von der Richard Serras oder Robert Polidoris. Wenn ich, wie mit Robert Frank, David Goldblatt oder Berenice Abbott, ein ganzes Lebenswerk betreue, bin ich Zeuge des aufregenden Prozesses, wie sich die Konzeption und die Arbeit eines Künstlers über die Jahrzehnte verändert und weiterentwickelt. Das ist ein ungeheures Privileg. Jedem Künstler, jedem Autor, gerecht zu werden, seine Vision zu verstehen und bestmöglich umzusetzen, ist eine Herausforderung, der ich mich gern jeden Tag neu stelle. Das hält mich jung, es ist mein Überlebensmittel, von dem ich glücklicherweise durch die Arbeit in meinem Verlag immer ausreichend habe.