Interview mit Andreas Rötzer

Nachahmer sind die schönste Bestätigung

14. Januar 2016
von Christiane Petersen
Für Matthes & Seitz regnete es im vergangenen Jahr Preise. Hat der Erfolg Auswirkungen auf den Verlag? Und was hat Programmarbeit mit Liebe zu tun? Ein Gespräch mit dem Verleger Andreas Rötzer.

2015 war ein gutes Jahr für Matthes & Seitz Berlin: Frank Witzel hat den Deutschen Buchpreis gewonnen, Angela Steidele den Bayerischen Buchpreis. Welche Wünsche sind denn noch offen für 2016?

Sie dürfen nicht vergessen, dass auch Esther Kinsky drei Auszeichnungen erhalten hat: den Franz-Hessel-Preis, den Kranichsteiner Literaturpreis und den Preis der SWR-Besten­liste. Tatsächlich, es wäre vermessen, mir zu wünschen, dass es so weitergeht. Aber ich wünsche mir, dass wir auf diesen Erfolg aufbauen und die Zustimmung von Publikum und Kritik für unsere Autoren nutzen können. Wir haben einen Punkt erreicht, von dem aus es möglich ist, bereits ins Auge gefasste Projekte mit leichterer Hand zu verwirklichen. Das ist ein großes Glück.

Erfolg kann einen Verlag verändern. Sie selbst sagten einmal, ein bestsellerverwöhnter Verlag generiere auto­matisch neue Strukturen, die Einfluss auf das Programm ­haben. Wie gehen Sie damit um?

Ich bezog mich damals auf diesen Satz von Axel Matthes: "Wenn wir einen Bestseller haben, wissen wir, dass wir etwas falsch gemacht haben." Der Kern von Matthes’ Kritik liegt in meinen Augen in der Sucht, die der Erfolg erzeugt, ihn zu wiederholen. Dagegen ist niemand gefeit. Wir halten uns an unsere Programmkerne. Man konzentriert sich dadurch auf ein ferneres Ziel.

Dennoch können die Wellen nach einer Preisverleihung auch mal hochschlagen. Welche Auswirkungen hatte der Deutsche Buchpreis auf die Arbeit Ihres Verlagsteams?

Die Herausforderungen waren im Wesentlichen praktischer Natur: Für unseren Vertrieb galt es noch ungewohnte Auflagenzahlen zu disponieren, während wir mit Anzeigen in der Branchen- und Fachpresse den Erfolg zu befeuern versuchten. In der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit ging es darum, die explosionsartig gewachsene Aufmerksamkeit zu dirigieren und Lesungen zu organisieren. Sie müssen sich das einmal vorstellen: Innerhalb von vier Wochen wurden insgesamt 102 Lesungen für Frank Witzel vereinbart. Zur selben Zeit verhandelte unser Rechtemanager Richard Stoiber die Auslandslizenzen. Was mir aber besonders gefiel, war die verstärkte Aufmerksamkeit für unser Gesamtprogramm, das Vertrauen in die Relevanz unserer Autoren und die Neugier der Buchhändler und Leser auf sie.

Seit 2013 erscheint bei Ihnen die Reihe "Naturkunden", herausgegeben von Judith Schalansky. Andere Verlage setzen mittlerweile auch verstärkt auf das Thema Natur. Sehen Sie sich in der Rolle des Trendsetters?

Ich sehe die Arbeit als Verleger immer politisch. Als Verlag kann man Themen setzen, Diskurse anregen und weiter­treiben. Auf diese Weise in die Öffentlichkeit einzuwirken – sei es mit den Themen Natur, Religion, Asien – ist eine schöne Arbeit. Einen Trend zu setzen, ist nicht planbar, das ­Programm aber bildet Themen unserer Gegenwart ab; und da lag das Thema Natur in der Luft. Wir sind es dann vielleicht systematischer und tatsächlich etwas früher angegangen als die anderen. Jetzt erscheinen in anderen Verlagen Titel zu dem Thema, die von unseren "Naturkunden"-Büchern abgekupfert sind. Darüber ärgert man sich und gleichzeitig sind Nachahmer die schönste Bestätigung für die eigene Arbeit. Andere Verlage wie die Andere Bibliothek, ein Vorbild, arbeiten seit Langem ähnlich, und vielleicht gelingt es uns gemeinsam langsam, den Buchmarkt zu verändern. Zum Beispiel dürfen Bücher heute wieder teurer sein.

Sie meinen, dass die Preise für Bücher steigen sollten?

Ich denke, wir sollten keine Angst vor höheren Preisen haben und den Wert der Bücher in den Vordergrund rücken. Ein hervorragender Text verdient eine ebensolche Gestaltung. Den Begriff "bibliophil" halte ich als Beschreibungskategorie allerdings für ungeeignet, er rückt den Inhalt in den Hintergrund. Der Inhalt kommt aber immer an erster Stelle, es geht darum, ihm eine adäquate Form zu geben. Durch die Angemessenheit von Text und Gestaltung entstehen ehrliche Bücher, die auf Dauer die Buchhändler und Leser überzeugen, denn ihnen ist klar, dass sie etwas von bleibendem Wert verkaufen und kaufen.

Wenn das Buch in seiner gedruckten Form an Wert gewinnt – wie schätzen Sie dann das weitere Potenzial des E-Books ein?

Ich war immer der Meinung, dass das E-Book, so wie wir es kennen, eine Brückentechnologie ist und die echte Leserevolution noch kommt. Und keiner weiß, wie sie aussieht. Bislang ging es nur um einen Wechsel des Trägermediums, aber nicht um das Lesen als solches. Das Lesen als solches wird sich nicht verändern. Denn es ist etwas Prozesshaftes, es braucht Zeit, man kann es nicht beschleunigen. An dieser Grundvoraussetzung werden auch neue Technologien nicht rütteln.

Ihr Verlag besteht aus einem Team von acht festen Mit­arbeitern. Worin sehen Sie die Vorteile eines relativ kleinen Verlags?

Unser Vorteil liegt vielleicht in unserer Beweglichkeit und in den kurzen Wegen. Ideen müssen in unserem Verlag keine Hierarchieebenen und Gremien durchlaufen, werden nicht zwischen unterschiedlichen Interessen zerrrieben. Die Arbeit findet miteinander statt, sie steht und fällt mit den Mit­arbeitern, in kleineren Teams ist jeder entscheidend.

Sie haben 1999 bei Matthes & Seitz die Stelle des Buch­halters angenommen. Wie kam es zu diesem Einstieg?

Die Stelle des Buchhalters war die einzige, die frei war, und Axel Matthes bot sie mir an. Er rechnete wahrscheinlich nicht damit, dass ich sie annehmen würde. Aber ich fand und finde die Buchhaltung tatsächlich interessant. Wer es schon einmal gemacht hat, kann das verstehen, es gibt die "Schönheit der Buchhaltung", sie ist ein wenig wie Schachspielen. Es ist wunderbar, wenn alles aufgeht. Aber ich hätte auch jeden anderen Job bei Matthes & Seitz gemacht, auch geputzt. Der Verlag hatte eine große intellektuelle und atmosphärische Anziehungskraft auf mich.

2004 haben Sie Matthes & Seitz in Berlin auf neue Beine gestellt, aus dem Buchhalter wurde der Verleger. Was mögen Sie an Ihrer Aufgabe – und was ist Ihnen zuwider?

Zuwider ist mir, wenn ein Buch seine Leserschaft nicht findet. Jedem Buch bin ich verbunden, sonst würde ich es nicht machen. Man darf nicht vergessen, dass es neben den Werken von Frank Witzel, Angela Steidele, Esther Kinsky, Fabre, Schalamow oder der Reihe "Naturkunden" viele Titel gibt, die nicht die Aufmerksamkeit bekommen, die sie verdienen. Titel, von denen ich denke, dass sie etwas verändern können. Aktuell zum Beispiel "The 1805 Prelude" von William Wordsworth, ein Hauptwerk der englischen Romantik in erster deutscher Übersetzung – wenn etwas derart Großartiges nicht gelesen wird, dann ist das schlimm. Das genaue Gegenteil ist natürlich eine Anerkennung wie der Deutsche Buchpreis. Dass wir mit einem wirklich grandiosen Buch eine derartige Aufmerksamkeit bekommen, das passiert ganz selten. Das empfinde ich tatsächlich als großes Glück. Wie ich auch das freie, selbstbestimmte Arbeiten und die Möglichkeit, Dinge zu formen, als Glück empfinde.

Frank Witzel erhielt viele Absagen, bis Sie sich entschieden, seinen Titel ins Programm aufzunehmen. Worauf achten Sie bei der Zusammenstellung Ihres Verlagsprogramms?

Das Programm des alten Verlags hat mich erzogen, es gibt da eine große Kontinuität in der Themensetzung. Derzeit sind wir mit der Planung unseres Programms beschäftigt. Die Linien bis 2018 sind gezogen. Sie ergeben sich aus unseren programmatischen Themensetzungen und natürlich aus unseren Reihen.

Bei der Entscheidung, ob ein Titel ins jeweilige Programm passt – worauf kommt es da an?

Das ist schwer zu beschreiben. Wenn man ein Manuskript bekommt, ist es wie in der Liebe, wie bei einer Begegnung. Manchmal ist es die Liebe auf den ersten Blick. Manchmal nicht. Und wenn es gut läuft, sagt man: okay. Das passt, da machen wir weiter.