Gastspiel von Christine Paxmann

Die Bildungsschippe

11. Februar 2016
von Börsenblatt
Kennen Sie auch solche Kunden, deren Wunderkinder "für ihr Alter schon unglaublich weit" sind? Christine Paxmann ist im Buchhandel wiederholt auf diese Spezies gestoßen.

"Mein Sohn ist fünf, aber schon sehr weit – haben Sie ein Buch nur mit Großbuchstaben? Die kann er schon." Der Vater, der gerade die Buchhandlung betritt, ist lässig verkommen, wie es Väter um die 40 gern sind, wenn sie maximal Hipster und minimal spießig wirken wollen. Ich werde fündig bei den "Mumin"-Comics; jetzt noch was für die Schwester des kleinen Versalien­ritters. Die ist schon "richtig, richtig weit", denn sie hat mit neun alle "Harry Potter" gelesen. Ich verkneife mir, dass man HP da noch nicht gelesen haben muss, obwohl ich gegen Altersempfehlungen bin. Ich bin für Altersfühlungen und HP fühlt sich nicht wie Neun an. Stattdessen höre ich mich sagen: "Dann kann sie schon große Textmengen bewältigen!" Fettes Nicken vom Vater, den ich jetzt am stärksten Verkaufsköder habe: dem Stolz auf die Brut. »Versuchen Sie es doch mal mit 'Calpurnias (r)evolutionäre Entdeckungen'!" Dem Hipstervater geraten die Augenbrauen gefährlich nah aneinander. "Das ist ja nicht Fantasy."
Nee, isses nicht. Ist Realismus mit wissenschaftlichen Einsprengseln und einer durchgeknallten Familie. "Das wird sie noch nicht packen, da seh ich schwarz!" Über seinen Augen bildet sich eine Monobraue, die Schwellenängste vor realistischen Geschichten sind wohl "weit größer" als geahnt. Mit "Survivor Dogs" kriege ich ihn dann, zumal er bei Gefallen gefühlt 300 Bände nachkaufen kann.
Die nächste Kundin möchte die Nichte beglücken, die sei vier und jetzt schon "derart weit, dass man sich auf was gefasst machen kann, wenn die mal groß wird". Ich ahne, dass die Tante bereits an eine Bilderbuchfassung über das Leben von Rosa Luxemburg gedacht hat. Hier ist Fingerspitzengefühl gefragt. Tapsige Bären, die einander lieb haben, werden den Geschmack nicht treffen. Vielleicht Tomi Ungerers "Drei Räuber", großartige Anarchie, und ich berate nicht genderaffin. Strahlend überreiche ich das schwarz gecoverte Bilderbuch. "Um Gottes willen, das Kind bekommt doch Albträume von so was!" Mit spitzen Fingern kriege ich den Klassiker zurück. Ich persönlich würde ja so was einer künftigen Präsidentin schon zutrauen. Mit "Crictor" kriege ich schließlich die Kurve, ist das Buch doch von starken Frauenfiguren besetzt.
Hab ich schon gesagt, dass mir Kunden ohne Bildungsdünkel am liebsten sind? Die schlimmsten Sätze sind: "Das hab ich schon als Kind gern gelesen", "Das fehlt ihm noch im Klassikerregal", "Man kann Kindern schon was abverlangen". Nach den Mädcheneltern mit Philosophieanspruch kommt die unentschlossene Kundin. "Meine Tochter ist 17, hat eigentlich schon alles gelesen, aber für die Klassenfahrt kann es ruhig was Lockeres sein!" In mir ein fieses Grinsen, weil es auf Klassenfahrten eigentlich nur zum Lesen von Snapchats, Whatsapp-Posts und Getränkekarten für Hochprozentiges langt. Meine Wahl fällt auf "Auerhaus" und "Mädchen­meute", aus dem Erwachsenenprogramm. Die Mutter ist beglückt: "Sehr schön, dass wir jetzt endlich der Kinderbuchabteilung entwachsen sind." Ich verkneife mir eine Anmerkung.
Schließlich erscheint eine Helikoptermutter, die ihren Sohn schon gern zu einem Debattierzirkel und Poetikseminar anmelden würde. Der Zehnjährige darf sich zur Belohnung, weil er "so schön mit einkaufen war", was aussuchen. Ich sehe den gütig genervten Blick in den bebrillten Augen des Kindes. Wie gern würde es seiner Kamelhaarmantelmutter mit den sauberen Strähnchen einen Stinkefinger zeigen. Da entdeckt das Wunderkind die DVD-Kassette mit den besten Toren des FC Bayern. Es beginnt zu strahlen. Es darf sich was aussuchen. Die Mutter hat "was" gesagt und nicht "Buch". Als es ihr die Kassette reicht, ist der Triumph in seinen Mundwinkeln unermesslich. Selten war ein Besuch in der Buchhandlung so geil. Im Gesicht der Mutter beginnt es zu zucken. Auch, weil sie sich doch so sicher war, dass in diesem Buchladen kein einziges artfremdes Produkt zu finden sei. Es kann nun sein, dass wir die Dame als Kundin verloren haben, aber wir haben einen kleinen Jungen als künftigen Kunden gewonnen. An den Laden, wo er seiner Mutter von der Bildungsschippe gesprungen ist, wird er sich ewig erinnern.