Alfred-Kerr-Preis 2016: Dankesrede

Das Schicksal der Götter oder die Kaninchen-Metapher

16. März 2016
von Börsenblatt
Heute wurde der Lyriker und Literaturkritiker Nico Bleutge mit dem Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik ausgezeichnet. Wir dokumentieren seine Dankesrede.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

die Kanincheninsel müssen Sie sich als einen trostlosen Ort vorstellen. Hoch im Norden ist dieses Stück Land, dessen genaue Lage niemand kennt. Traurig bewegen sich ein paar Ginsterhalme über dem Flugsand; hier und da eine Zwergtanne, am Boden verdorrtes Buschwerk. Und nur eine ärmliche Hütte erzählt davon, daß ein menschliches Wesen dort wohnt. Die einzigen Besucher, von denen man weiß (Schiffsleute eines Walfängers aus dem achtzehnten Jahrhundert), sahen hunderte von Kaninchen, weshalb sie den Ort Kanincheninsel nannten. Heinrich Heine beschreibt diese Kanincheninsel in seinem kleinen Essay „Die Götter im Exil“. Und er beschreibt auch jenes Wesen, das dort einsam in seiner Hütte lebt. Ein „uralter Greis“, so  Heine, „der kümmerlich bekleidet mit zusammengeflickten Kaninchenfellen, auf einem Steinstuhl vor dem Herde saß, und an dem flackernden Reisig seine magern Hände und schlotternden Kniee wärmte.“

Was für ein Wesen ist das, uralt, mit Steinstuhl und Kaninchenfell, das da in seiner Hütte hockt und friert? Ist es ein Einsiedler? Heines persönlicher Robinson? Heine spinnt hier eine These fort, die er schon in seinen großen Aufsätzen zu Frankreich und Deutschland aufgefaltet hat, die Vorstellung nämlich, die antiken Götter seien nach dem Sieg des Christentums nicht etwa verschwunden, sondern umgedeutet worden, umgewandelt in Dämonen, Wesen mit „vermaledeiter Existenz“, die ins Exil abwandern mußten. Nun treiben sie im Dunkel alter Tempel und in Zauberwäldern ihr Unwesen oder suchen unter allerlei Verkleidungen Versteck bei den Menschen auf Erden. Apollo lebt als Hirte in Niederösterreich, Mars dient als Landsknecht, andere Götter verstreuen sich als Geister in die vier Elemente. Und auch der Alte auf der Kanincheninsel ist kein unbekanntes Wesen. Ganz im Gegenteil, wie sich im Fortgang der Erzählung herausstellt, ist es niemand anderes als der Göttervater höchstselbst, Jupiter, der einst Oberste, Herrscher über die Unsterblichen und die Sterblichen. Heine entgleist fast die Sprache angesichts dieser Vorstellung: „Er, den Homer besungen (...); er, der nur mit den Augen zu zwinkern brauchte, um den Erdkreis zu erschüttern; er, der Liebhaber von Leda, Alkmene, Danae (...) – er muß am Ende am Nordpol sich hinter Eisbergen verstecken, und um sein elendes Leben zu fristen mit Kaninchenfellen handeln wie ein schäbiger Savoyarde!“

Man muß den Eindruck bekommen, den Kritiker habe auf seinem Gebiet genau jenes Schicksal ereilt, das der Göttervater Jupiter erleiden mußte. Einst der Herrscher über die Schriftsteller und die Sprache, habe der Kritiker seine gesellschaftliche Bedeutung längst eingebüßt.

Vielleicht ahnen Sie schon, worauf dieser kleine Exkurs zu Heinrich Heine, worauf dieser Besuch bei  den abgedankten Göttern hinauswill. Vielleicht wundern Sie sich aber auch, warum der liebe Preisträger sich bei Geistern und Kaninchen aufhält und Ihnen nichts von seiner Tätigkeit als Kritiker erzählt oder sich zumindest mit jenem Gegenstand beschäftigt, für den er diesen wunderbaren Preis erhält, mit der Kritik nämlich. Aber wir sind ja schon mittendrin. Denn wer sich ansieht, wie seit einigen Jahren über die Lage der Kritik, der Literaturkritik im Besonderen, gesprochen wird, sei es in Zeitungen oder im Radio, auf Podien oder im Netz, der muß den Eindruck bekommen, den Kritiker habe auf seinem Gebiet genau jenes Schicksal ereilt, das der Göttervater Jupiter erleiden mußte. Einst der Herrscher über die Schriftsteller und die Sprache, habe der Kritiker seine gesellschaftliche Bedeutung längst eingebüßt und hause nun, abgemagert und schlotternd, als Portraitschreiber oder als Verfasser kleiner Buchempfehlungen im Dunkel der schnellen Unterhaltung. Und bei alledem langweile er nicht nur sich selbst, sondern, was noch viel schlimmer ist, er langweile auch seine Leser.

Einmal abgesehen davon, daß der Vorstellung einer solchen Kritikerinstanz etwas höchst Fragwürdiges innewohnt – richtig an dem Befund ist immerhin, daß ein Kritiker, wenn er nicht gerade das ungemein seltene Glück einer Festanstellung hat, mit seiner Tätigkeit kaum so viel verdient, daß es zum Leben reicht. Ausbeutung? Selbstausbeutung? Aber ja! Andererseits dürfte es dem freien Kritiker nie anders gegangen sein, man denke nur an Walter Benjamin, der die „Hoffnung auf Stellung und ein sicheres Brot“ immer wieder erwähnte – und sie doch ein ums andere Mal begraben mußte. Sie merken schon, beim Nachdenken über die Kritik droht man selbst zum hakenschlagenden Kaninchen zu werden. Vielleicht kann es helfen, das Feld, fast hätte ich gesagt: das Revier, ein klein wenig einzugrenzen. Da die Jury mir diesen Preis auch für meine Besprechung von Lyrikbänden verleiht, will ich den Ball, der da auf mich zurollt, sehr gerne aufnehmen und ein wenig von der Lyrikkritik sprechen. Ohne dabei die leise Vermutung von der Hand weisen zu können (ein Stimmchen, das hartnäckig im Innenohr flüstert!), das Sprechen über Lyrikkritik sei immer auch ein Sprechen über Literaturkritik überhaupt.

Da ich zuerst einmal Lyriker bin und kein Kritiker, erlaube ich mir gewissermaßen einen Blick von außen. Lassen Sie mich noch einmal auf die Langeweile zu sprechen kommen, die nicht nur den ins Exil verdrängten Jupiter quält, sondern auch den Kritiker. In seinen Briefen aus Berlin, die Alfred Kerr fünf Jahre lang für die Breslauer Zeitung schreibt, notiert er im Frühjahr 1895 – und knüpft dabei an ein Zitat von Heine an: „Was ist der Mensch in Berlin, wenn der Monat Mai zu Ende geht? Ein geplagter Wurm, der Sand atmet und sich vor schlechter Luft und Hitze krümmt.“ Was tun in dieser unsäglichen Langeweile? Man fährt mit der Dampfstraßenbahn nach Halensee. Spaziert durch den Grunewald. Oder folgt der Einladung zu einer Jagd. Nun sind die Berliner Jagden, wenn wir Kerr glauben dürfen, sehr merkwürdige Ereignisse. So schreibt er: „Es läßt sich nicht verkennen, daß in diesen Berliner Jagdveranstaltungen eine gewisse – wie soll man sagen?–, eine gewisse durch Komfort und großstädtische Affektiertheit temperierte Poesie herrscht. Nachmittags besteigt man den Zug, ist in einer Stunde an Ort und Stelle, verbringt den Abend in vorzüglicher Stimmung bei einem gemeinsamen Mahle am Rande irgendeines Sees – und diese märkischen Seen mit ihrem dunkelgrünen Wasser und den dunklen schweigenden Kiefern haben unendlich viel Stimmungsvolles, und wenn der Jäger literarische Privatneigungen hat, erinnert er sich im Anblick so spröder Trauerschönheit gleich an Heinrich Kleist“.

So weit Kerr. Ich erspare Ihnen die Schilderung der Jagd selbst, einer Veranstaltung, die zum Ödesten gehören dürfte, was Kerr während seiner Berliner Jahre erlebt hat. Was mich interessiert, ist die Langeweile, von der Kerr schreibt, eine Langeweile, die sich sogar auf den Leser überträgt. Mag sein, jener „ennui“ ist eine Folge des völlig ausgehöhlten gesellschaftlichen Rituals, das den Ausflug durchzieht. Vielleicht hat es aber auch mit dem schlechten Verständnis von Poesie zu tun, das Kerr hier für seine Zwecke ausspielt. Die Poesie als etwas „Stimmungsvolles“, das sich dunkelgrünen Seen und schweigenden Kiefern verdankt – dieses Bild dürfte nicht nur den Teilnehmern jener affektierten Jagdgesellschaft gefallen haben, sondern auch so manchem von Kerrs Kollegen in den Redaktionsstuben in Breslau und Berlin.

Aber ist ein Gedicht „stimmungsvoll“? Der Schriftsteller Marcel Beyer hat in seinen grandiosen Lichtenberg-Poetikvorlesungen eine Spur zu Lewis Carrolls „Alice im Wunderland“ gezogen. Wer, wie Alice, dem weißen Kaninchen folgt und den langen, langen Schacht hinunterfällt, der gerät in eine Welt, „in der die Gesetze der Wirklichkeit keine absolute Geltung besitzen“. Es ist eine Welt, die „von den vorderhand unbegreiflichen Gesetzen des Möglichen durchdrungen“ ist. Möglich heißt durchaus nicht, die Wirklichkeit sei dort außer Kraft gesetzt oder es handele sich gar um ein wirklichkeitsfernes Reich des Guten und des Schönen. Vielmehr sind die Wahrnehmungsstränge dichter, angereichert mit Gedanken, Träumen und Erinnerungen, mit einem Feuer, wie Robert Musil es nannte, „die Wirklichkeit als Aufgabe und Erfindung zu behandeln“.

Eine solche Welt des Möglichen kann ein Schacht sein – oder gleich ein ganzer Berg, in den dieser Schacht hineinführt. Die Romantiker stellten sich die Sprache und das Bewußtsein als eine Art Bergwerk vor, in dem zwergengleiche Wesen die wertvollen Steine abtragen. Eine Vorstellung, die so gewaltig strahlte, daß selbst ein romantischer Spätzünder wie Heine noch in ihren Bann geriet und einige seiner Elementargeister unter die Erde schickte. Der Lyriker Thomas Kling meinte einmal, der Dichter könne sogar in den Berg hineinschauen. Wenn ihm eine Metapher gelinge, wenn er die verschiedenen Wortschichten untereinander zum Glimmen bringe, entstehe aus diesem Moment heraus ein Brennsatz, der es dem Schreibenden erlaube, in die Schichten der Zeit und der Sprache zu sehen.

Der Kritiker untersucht den Metaphernmoment. Nicht als Kunstrichter, bewahre!, aber als jemand, der beobachtet, wie Traditionen aufgenommen und weiter- oder umgeschrieben werden.

Und vielleicht verfährt der Kritiker ja ähnlich. Mit seiner Sprache, mit seinem Tasten, versucht er einige der sprachlichen Schichten für den Leser abzutragen, sie ihm fühl- und denkbar zu machen, das Glimmen vor Augen und Ohren zu führen – damit auch er, der Leser, in den Berg hineinschauen kann. Zugleich untersucht der Kritiker diesen Metaphernmoment natürlich, denkt darüber nach, wie geglückt die Verschmelzung der unterschiedlichen Sprachschichten im einzelnen Fall denn ist. Nicht als Kunstrichter, bewahre!, aber als jemand, der beobachtet, wie Traditionen aufgenommen und weiter- oder umgeschrieben werden. Der Echos nachlauscht und sich ansieht, welches neue Werkzeug für den Bergbau die Gedichte entwickeln (oder ob sie nur das alte Gezähe verwenden) – und der dann sorgsam abwägend zu einer Bewertung kommt und diese Bewegung durchsichtig macht.

Es muß übrigens kein Berg sein. Es genügt schon eine Grube, eine Mergelgrube zum Beispiel, wie bei Annette von Droste-Hülshoff. Oder eine kleine Höhle. Ein Kaninchenbau vielleicht. Und wenn sich darin, oder genauer: davor, auch kein Kaninchen finden läßt, so doch zumindest etwas, das einem Kaninchen ähnelt, wie in einem Gedicht von Thomas Kling:

in seitenlage, eben noch
ein junger hase.
biegsam, ganz, noch
völlig flauschig.
auf beiden seiten
ohne wunde.
sonne scheint ihm rosa
durchs ohr.

die uhr läuft drei
goldene fliegen und
eine wespe sonnengelb
erscheinen wortlos
auf wuscheligem
sommeraas. 

Das ist nun wahrlich kein idyllisches Bild. Eine harmlose Skizze scheinbar. Und doch ist die ganze Tradition der Lyrik seit Baudelaires berühmtem „Une charogne“ anwesend. „Ein Aas“ hat Friedhelm Kemp in seiner Übersetzung daraus gemacht, ein totes Tier, das am Wegrand liegt. Baudelaires „An eines Weges Biegung“ wird bei Kling zum „biegsam“, die „strahlende Sonne“ zum klaren „sonnengelb“ der Wespe, und die „summenden Fliegen“ werden zu „goldenen fliegen“. Die Wespe wiederum ist Klings Lieblingstier, die aggressive Variante jener Bienen, die schon in der Antike für das Schreiben stehen. Es geht also auch bei Kling um die Dichtung, wie es in Baudelaires Gedicht einen Künstler gibt, der seinen schwindenden Entwurf, das Aas, „aus dem Gedächtnis nur vollendet“. Und es gibt einen klaren Bezug zur Gesellschaft. Nur ist Klings Künstler weitaus unaufdringlicher; wo Baudelaire die Maden wimmeln läßt, begnügt sich Kling mit der eleganten Andeutung: „die uhr läuft“. Aber in diesen drei Wörtern bündelt Kling eine Reflexion von Gesellschaft, die den gesamten Zyklus, zu dem das kleine Hasen-Stück gehört, durchzieht. Es ist nicht zuletzt eine Kritik am Umgang des Menschen mit dem, was man so leichthin „Natur“ und „Tier“ nennt, an einem Umgang, der rein auf Verwertung und Funktionalität ausgerichtet ist.

Wem das zu vergänglichkeitslastig ist, der freue sich an anderen Wesen, an jenen „dust bunnies“ etwa, die die Dichterin Uljana Wolf in einem Gedicht besingt:

 „wir wollten über kleine tiere sprechen, wollten auf die knie gehen
für die kleinen tiere, jene aus staub und schlieren, in ritzen und
dielen, jene, die in grauen fellen frieren, unsere tiere aus nichts.“

Kleine Tiere aus Nichts – man muß kein Göttervater sein, um zu bemerken, daß hier nicht nur von Staubflusen gesprochen wird (die im Deutschen den schönen Namen „Wollmäuse“ tragen), sondern unter der Hand auch das Gedicht höchstselbst zur Sprache kommt und jener Zusammenhang, in dem es immer schon steht. Denn von der „sprache“ ist im Fortgang des Gedichts die Rede, von der „sprache“ und vom „hauchen“ und vom „husten“. Diese Staubkaninchen sind Wesen, bei deren Anblick es der Sprecherin selbst fast eben jene, die Sprache, verschlägt – und nur noch Staunen bleibt: „wir wollen also still sein, auf / den knien lauschen: unsere kleinen tiere, wie sie ihre wollenen, / mondgrauen namen tauschen.“ Und tatsächlich tauscht das Gedicht die Namen, unterzieht sie einer poetischen Analyse, crusht, nein, schiebt den Jargon der Reinigungssprache mit Redewendungen und romantischen Topoi zusammen.

Stimmungsvoll? Gedichte sind nichts, das man mal eben hübsch nebenher liest, um sich an einem kleinen ästhetischen Kitzel zu erfreuen und dann alles wieder zu vergessen. Vielmehr können sie wie keine andere Art von Literatur Gesellschaft, ihre Sprache und ihre Struktur reflektieren, nach Übersetzbarkeit fragen, Normierungen unterlaufen – und damit Erkenntnis bieten. Nicht durch das, was sie sagen, sondern dadurch, wie Gedichte es sagen, wie sie mit sprachlichen Strukturen umgehen, sie wenden, ein Netz von Motiven auswerfen, Bedeutungen, Muster und Klänge aufgreifen und verschieben. Und so für Offenheit sorgen, Denkmöglichkeiten freilegen.

Aber wie sieht es mit den anderen Möglichkeiten aus, mit jenen der Kritik? Einer Kritik, die Öffentlichkeit herstellen, die zwischen Buch und Leser vermitteln will? Erlauben Sie mir, daß ich Ihnen eine letzte Geschichte erzähle. Die Schriftstellerin Brigitte Kronauer hat vor einigen Jahren in einem kleinen Feuilleton gezeigt, daß auch in der scheinbar so selbstgenügsamen Natur „mit Tricks und Täuschungen“ gearbeitet wird. Marder zum Beispiel wenden eine ganz bestimmte, höchst raffinierte Technik an, um, ja, um Kaninchen zu fangen. Da der Marder um einiges kleiner und vor allem weitaus langsamer ist als seine hakenschlagende Beute, greift er zu einer List, um den Abstand zum Kaninchen zu verringern: er tanzt. Oder in Kronauers Worten: „Er wirft sich in die alleralbernsten Figuren, schlägt gewissermaßen Rad und geht auf den Händen.“ Und die erwünschte Wirkung tritt ein. Das Kaninchen nämlich hält in seinen Bewegungen inne und beobachtet den Tanz. Und während es Sekunde um Sekunde wie in Trance verharrt, verringert sich der Abstand zwischen ihm und dem Marder, bis, ja, bis der Jäger „endlich kalten Blutes sein dösiges Wild im Nacken packt“.  

Wer könnte in diesem Bild – um bei der Kritik zu bleiben – der Jäger sein? Vielleicht jene, die fortwährend von der großen Umwälzung sprechen, die der „Übergang ins digitale Zeitalter“ mit sich bringe? Oder der wirtschaftliche Druck (Stichwort Anzeigeneinbruch), der Verlage und Redaktionen dazu zwinge, immer mehr auf ökonomische Argumente zu bauen und ästhetische Kriterien (Stichwort Verkäuflichkeit, Stichwort Unterhaltung) immer mehr aufzuweichen? Oder sind es die Zeitungsmacher selbst, die Konzernführer und Chefredakteure, denen „Infotainment“ und die „wirklich ernsten Themen“ über alles gehen? Stellt sich nur die Frage, wer dann eigentlich das Kaninchen ist. Vielleicht der Netztheoretiker, der nach Stoff für seine apokalyptischen Thesen sucht? Vielleicht der Kritiker, der Lyrikkritiker? Oder auch der eine oder andere Mitarbeiter in den Redaktionen, der sich gar nicht mehr die Mühe macht, sich selbst mit Gedichten zu befassen, außer man braucht mal kurz – an Ostern beispielsweise? – etwas „Stimmungsvolles“ neben dem Aufmacher?

Brigitte Kronauer weist in ihrer Analyse der Marder-Kaninchen-Szene darauf hin, das Faszinosum gehe nicht nur vom Jäger und seiner Schläue aus. Nein, es verdanke sich auch dem „fatal umworbenen Kaninchen“, wie Kronauer schreibt, das „vor einem archaischen Bezirzungsritual lustvoll, aber sehr riskant die Waffen streckt“. Ein verzwicktes, dialektisches Verhältnis also: sich selbst lustvoll dabei zusehen, wie man ausgelöscht wird. Und sich dabei gar nicht sicher sein können, daß man nicht selbst jener Jäger ist, vor dem man wie gebannt verharrt.

 

Doch zurück zum Gedicht. Gäbe es, wie in so manchem Märchen, die berühmten drei Wünsche, dann wäre einer meiner Wünsche dieser: wieder ein größeres Bewußtsein zu schaffen für die analytischen Möglichkeiten des Gedichts. Der zweite: dem Gedicht den medialen Platz einzuräumen, der ihm als die so gern zitierte „Königsdisziplin“ der Literatur doch wie selbstverständlich zustehen müßte. Jedes Jahr aufs Neue wird der „Lyrikboom“ in Artikeln und Interviews beschworen. Aber der Platz, der Besprechungen von Gedichtbänden in den Zeitungen und im Radio zugemessen wird – er wird kleiner und kleiner. Stattdessen veröffentlicht man kurz vor den Buchmessen mal schnell ein paar Glossen zu einzelnen lyrischen Themen und denkt, so hätte man dem Gedicht Genüge getan.

Das Gedicht braucht den genauen Blick. Und es braucht diesen Blick in jenen Medien, die den Gedichtartikel neben die politische Glosse, den Wirtschaftskommentar und den Sportbericht stellen.

Flotte Feuilletons über die Situation der Lyrik? Bitte nicht! Das Gedicht braucht den genauen Blick. Das aufmerksame, geduldige, mal emphatische, mal ins Denken gedrehte Lesen und Wiederlesen. Das Abtragen der Schichten, Auffächern der Bedeutungsstränge, der Rhythmen und Klänge, der Brüche und Widersprüche, die es, das Gedicht, in sich trägt. Und es braucht diesen Blick in jenen Medien, die den Gedichtartikel neben die politische Glosse, den Wirtschaftskommentar und den Sportbericht stellen. Wenn die Zeitungen der Kritik diese Möglichkeiten nicht bieten, wird sie sich ihre eigenen Inseln suchen, zum Beispiel ins Netz abwandern. Es gibt dort längst sehr schöne Foren, in denen Lyrik besprochen wird. Allerdings trifft nach wie vor zu, worauf der Kritiker Gregor Dotzauer vor einigen Jahren hingewiesen hat. Es sind Gemeinschaften, „die von einem hochspezifischen Interesse bestimmt werden“, in diesem Fall: Schreibende und Lesende, die sich ohnehin für Gedichte interessieren. Man muß die beiden Sphären übrigens gar nicht vorschnell gegeneinander ausspielen. Ein Ideal wäre vielmehr, würden sich die Kritik in der Zeitung und die Kritik im Netz gegenseitig ergänzen. Es geht darum, wieder Platz zu schaffen für die Besprechung der vielen großartigen Gedichtbände, die Jahr für Jahr erscheinen. Und es geht darum – hier schmuggele ich den dritten Wunsch ein – , die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß ein junger Leser, der sich für Gedichte begeistert, überhaupt auf den völlig absurden Gedanken kommen kann, Kritiker zu werden, womöglich sogar: Lyrikkritiker.

Gestatten Sie mir am Ende, Ihnen eine Stelle aus Kafkas Tagebüchern vorzulesen. Eine Notiz zu einem Sommerausflug in den Harz, im Vorfeld des Ersten Weltkriegs. Ein Splitter, der so wunderbar frei von jeder Eindeutigkeit ist, daß er fast schon ein Gedicht sein könnte: „In der Nacht Fieber vom geschwollenen Fuß her. Der Lärm, den die vorüberlaufenden Kaninchen machen. Als ich (...) aufstehe, sitzen auf der Wiese vor meiner Tür drei solche Kaninchen. Ich träume, daß ich Goethe deklamieren höre, mit einer unendlichen Freiheit und Willkür.“

Ich danke der Jury, dem Börsenverein und dem Börsenblatt sehr herzlich für diesen Preis – und ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und für Ihre Geduld.

17. März 2016, Nico Bleutge