Alfred-Kerr-Preis 2016: Grußwort

Rilke am Point of Sale

16. März 2016
von Börsenblatt
Heute wurde der Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik an den Lyriker und Literaturkritiker Nico Bleutge verliehen. Bei der Ehrung auf der Leipziger Buchmesse erklärte Vorsteher Heinrich Riethmüller, wie er als Buchhändler von Bleutges Kritik profitiert.

Lieber Nico Bleutge, lieber Lothar Müller,
liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren,

geht es Ihnen auch so in letzter Zeit? Man hört und liest erstaunlich viele Nachrichten aus der Welt der Lyrik. Mehr als früher, ist mein Eindruck. Besonders gut gefiel mir kürzlich eine Geschichte, die der Verleger Jochen Jung im Börsenblatt erzählt hat: Da kommt ein Kunde, den es nach Rilke verlangt, in eine Buchhandlung. Er findet auch ein Bändchen und geht damit zur Kasse, wo die Buchhändlerin sitzt. Die lächelt ihn an und fragt, ob er das Buch haben wolle. Und da sagt dieser Kunde zur Überraschung der Kollegin: „Ja, aber nur, wenn Sie mir zuvor ein Gedicht daraus vorlesen, irgendeines.“ Nach kurzem Zögern tut die Buchhändlerin ihm den Gefallen, bekommt sogar Applaus, und natürlich kauft der Mann schließlich das Buch.

Die Anekdote hat ja einen wahren Kern: Man möchte Lyrik gern von verständigen Menschen vermittelt bekommen. Von konspirativen Poesiehändlern. Rilke im Nebenmarkt? Schwer vorstellbar! Menschen, die mit Dichtung handeln, sollten uns Brücken bauen können zu dieser konzentriertesten Gattung der Literatur.

Dieselbe Begabung wünschen wir uns idealerweise von Lyrik-Rezensenten – womit ich direkt bei der Hauptperson unserer heutigen Kerr-Preis-Verleihung angelangt bin: Nico Bleutge ist für mich so ein Brückenbauer hinüber zu den reizvollen, oft auch geheimnisvollen Landschaften der Poesie. Ich bin mir gar nicht sicher, ob er das so großartig hinkriegt, weil er selbst ein hochgelobter Dichter ist und zu der Sprachkunst seiner Autorenkollegen eine besondere Nähe spürt. Literaturkritik verlangt ja eher die Distanz, die Analyse. Unser Preisträger selbst nennt seinen Wechsel zwischen dichten und rezensieren eine „kultivierte Schizophrenie“ – kann man sich vorstellen.

Wie dem auch sei: Wenn ich Buchbesprechungen von ihm lese, kommt irgendwann meist der Moment, wo seine Reflexion über das Schreiben der Anderen bei mir eine Neugier auf die besprochenen Texte weckt. Auf eine Art, die mich verblüfft, entsteht eben gerade aus der Präzision seines kritischen Blicks am Ende eine Begeisterung für die Kunst. Das gilt nicht nur für die Gedichtrezensionen, die dieser Dichterkritiker oder Kritikerdichter schreibt, sondern in gleicher Weise für seine lesenswerten Besprechungen von Romanen.

Für mich als Buchhändler sind Literaturvermittler vom Schlage eines Nico Bleutge ausgesprochene Glücksfälle. Man liest, was er schreibt, ja nicht nur mit persönlichem Gewinn, sondern auch – das will ich nicht verhehlen – zum beruflichen Nutzen. Denn seine Art, sich mit Texten auseinanderzusetzen und über sie Auskunft zu geben, schult seinen Leser ungemein. Vielleicht wird man selber auf die Dauer ein wenig präziser und überzeugender im Gespräch mit den eigenen Kunden. Denn leider nicht jeden Tag ergibt sich für uns Buchhändler die Gelegenheit, am Point of Sale mit dem beherzten Vortrag eines Rilke-Gedichts den entscheidenden Kaufimpuls zu setzen.

Lieber Nico Bleutge: Ganz in Prosa, aber doch aufs Herzlichste gratuliere ich Ihnen heute zum Alfred-Kerr-Preis 2016!

Und nun, meine Damen und Herren, freuen Sie sich mit mir auf die Laudatio von Lothar Müller vom Feuilleton der Süddeutschen Zeitung; Lothar Müller hat übrigens selbst diesen Kritikerpreis schon bekommen, 16 Jahre ist das her.