Alfred-Kerr-Preis 2016: Laudatio

Wie man auf Fliegenpapier schreibt

16. März 2016
von Börsenblatt
Der Journalist Lothar Müller hat bei der Verleihung des Alfred-Kerr-Preises an den Lyriker und Literaturkritiker Nico Bleutge die Laudatio gehalten. Wir dokumentieren die Rede im Wortlaut. 

Meine sehr geehrten Damen und Herren, lieber Nico Bleutge,

als Alfred Kerr in der Einleitung zu seinen „Gesammelten Schriften“ die klassische Einteilung der Dichtkunst in drei Gattungen aufhob, verband er die Mitteilung, fortan zerfalle sie in Epik, Lyrik, Dramatik und Kritik,  mit einem Selbstporträt. Es war das Porträt eines Dichters, „der kein Triebtrottel sein will“:

               Entziehe dich dem Aberglauben,
               Es müsse wer im Kunstgefild
               Die Seelenwachheit runterschrauben
               (Damit er als Instinctler gilt!)

               Du sollst die Welt vom Wahn erlösen –
               Besteht sie gleich auf ihrem Schein:
               Der Dichter müsse dauernd dösen
               Und unzurechnungsfähig sein.

Kerr hat dem  launigen Lehrgedicht in Kreuzreimen eine Coda in Prosa hinterhergeschickt, einen aphoristisch zugespitzten Satz zum Mitschreiben und Zitieren: „Der wahre criticus ist ein nicht unzurechnungsfähiger Dichter.“

Das ist, als Auftakt zu einer Laudatio auf den Kritiker Nico Bleutge, schon mal gar nicht schlecht. Denn dieser Kritiker ist zugleich ein nicht unzurechnungsfähiger Dichter,  ein moderner Lyriker, der nie den Eindruck erweckt, ein Gedicht entspringe den unergründlichen Seelentiefen seines Autors. Seine Seelenwachheit ist beträchtlich, und wenn sie zugunsten der Halbwachheit zurücktritt in die Schwellenregionen des schlafnahen Dämmerns oder des Auftauchens aus Schlaf oder Versunkenheit, dann nicht, um selig zu dösen, sondern um Wahrnehmungen und Weltansichten mitzubringen, die anders und anderswo nicht zu gewinnen sind.

Nun ist aber der Kritiker Nico Bleutge durch die Kerr-Formel, er sei ein nicht unzurechnungsfähiger Dichter, noch nicht hinreichend charakterisiert, nämlich nur negativ.  Was aber zeichnet ihn positiv aus? Die Antwort, in einen knappen Satz gefasst, lautet: Seine Kunst der Charakteristik. Das ist vielleicht allzu knapp, also hier eine leicht erweiterte Fassung: der Kritiker Nico Bleutge nimmt seine Gegenstände, ob Prosa oder Lyrik, als Sprachgebilde ernst, er zeichnet ihre Sprachbewegung nach, lässt sie in seinem eigenen Text zu Wort kommen, macht sie für den Leser durchsichtig, und die Haltung, die er am Ende einer Rezension zu einem Gedicht, einer Erzählung einem Roman einnimmt, geht aus seiner eigenen Sprachbewegung hervor: und das ist eben die des Charakterisierens.

Nico Bleutge nimmt seine Gegenstände, ob Prosa oder Lyrik, als Sprachgebilde ernst, er zeichnet ihre Sprachbewegung nach.

Dafür ein Beispiel. Seit Jahren schreibt Nico Bleutge eine Lyrik-Kolumne für die Stuttgarter Zeitung, er stellt darin jeweils mehrere Bücher vor, in Miniaturen von  25 bis 30 Zeilen. Zum Beispiel, im Januar 2014, den Gedichtband „Nach Akedia“: „An Edward Hoppers formstarke Gemälde fühlt man sich bisweilen erinnert, wenn man die Gedichte des holländischen Dichters Erik Lindner liest. Manche seiner Verse wirken so, als habe hier jemand versucht, eine Sprache für das zu erfinden, was er auf Edward Hoppers Bildern sieht. Nicht, dass Lindner mit klassischen Formen spielen würde. Aber die Elemente seiner Gedichte – Baumschatten und Brücken, Menschen und Schaufenster, Fabrikhallen, Boote oder Gabelstapler – sind stets aus ihren Kontexten gelöst. Logische Folgen oder das Verhältnis von Ursache und Wirkung haben für Lindner keine vorrangige Bedeutung. Vielmehr choreografiert er seine Worte nach Figuren und Rhythmen.“ Auch in dieser Kurz-Rezension kommt der Autor, dem sie gilt, zu Wort. Und zwar mit dem Vers: „Du musst kalt sein / um etwas zu zeigen.“

Seine Rezension zum  Roman „Schlafgänger“ der Schweizer Autorin Dorothee Elmiger begann im Frühjahr 2014 so: „Wer die Welt nur noch als fremd erlebt, der mag einem Schlaflosen gleichen. Vielleicht beginnt es mit einem Riss, vielleicht mit einem leichten Flackern in der Wahrnehmung. Zunächst rückt alles in die Ferne, die Dinger und die Wörter verlieren ihre Bedeutung. Dann setzt sich eine große Müdigkeit im Körper fest, und ein Schwindel erfasst das Bewusstsein. Bis es am Ende so scheint, als sähe man sich selbst im Schlaf – und alles fände zur selben Zeit statt: ,Die Warnlichter an den Schloten blinkten außer Takt, ein Grenzwächter bewaffnete sich, die Ampel stand auf Rot, eine Passantin näherte sich, einer schob eine singende Säge durch Holz, einer trieb einen Stift durch einen Balken, um den Turm der Lagerhalle kreiste ein Vogel.’ “

Sie werden bemerkt haben, wo der Text des Rezensenten endet und das Zitat beginnt: bei den Warnlichtern. Und Sie werden zugleich bemerkt haben, dass die Sprache der Rezension die ihres Gegenstandes eher in sich aufnimmt, als daß sie ihr als urteilende Instanz gegenübersteht. Die Reflexion über Schlaf und Schlaflosigkeit, über die Lockerung der Bindungen von Wörtern und Dingen an ihre gewohnten Bedeutungen und Funktionen umschreibt den Raum, indem die Warnlichter zu blinken beginnen.

Alfred Kerr war nicht der erste, der die Kritik gleichrangig den Gattungen der Dichtung an die Seite setzte. Die ersten waren in Deutschland die Autoren der Frühromantik. Anders, als es manche Legende will, wußten sie, daß sie die Erben des großen Lessing waren, der die Einheit von Aufklärung und Kritik verkörperte. Um Spott, Sottisen, Verrisse und das, was sie „annihilierende Kritik“ nannten, waren sie nicht verlegen. Aber als Friedrich und August Wilhelm Schlegel 1801 eine zweibändige Sammlung ihrer „kritischen Bemühungen und Grundsätze“ publizierten, trug sie den Titel „Charakteristiken und Kritiken“, und diese Reihenfolge der Begriffe signalisierte vielleicht nicht nur ihre Gleichrangigkeit, sondern auch das Ideal der Bindung des kritischen Urteils an die Charakteristik. Friedrich Schlegels „Charakteristik“ des „Wilhelm Meister“ von Goethe war dafür das Modell, mit ihr beglaubigten die Frühromantiker ihre Forderung, die Kritik müsse selbst zur Kunst werden, zur Einheit von Reflexion und Poesie.

Lyrik, Essay und Kritik bilden derzeit in der deutschen Gegenwartsliteratur ein starkes Dreieck, in dem Sprach- und Formbewusstsein unangestrengt, aber nachdrücklich vorhanden sind, bei Monika Rinck und  Ann Cotten, Jan Wagner, Marcel Beyer und vielen anderen. 

Auf diesem reflexiven Terrain siedelt der Kritiker Nico Bleutge seine Kunst der Charakteristik an. In ihm gewinnt er seine Maßstäbe. Für Alfred Kerr war die Theaterkritik die Königsdisziplin. Das ist ein Genre der schnellen Reaktion, aus dem er, als Parodie der Akteinteilungen, die Abfolge knapper Absätze unter römischen Ziffern mit hoher Pointendichte gemacht hat. Nico Bleutges Rezensionen gewinnen ihre Überzeugungskraft aus der Geste: „Hier schreibt ein genauer Leser, der Sprachbewegungen nachverfolgt, aufschließt.“ Das Nachverfolgen ist aber kein Anschmiegen. Friedrich Schlegels berühmte Charakteristik des „Wilhelm Meister“ implodierte geradezu durch ihre affirmativen Energien. Das muss aber im Dreieck von Charakteristik, Kritik und Reflexion nicht so sein. Und bei Nico Bleutge ist es oft anders. Auch dafür ein Beispiel. Als vor wenigen Jahren Ernst Haffners Roman „Blutsbrüder“ über eine Clique von Jugendlichen ohne Arbeit und Wohnsitz im Berlin der späten Weimarer Republik wiederentdeckt wurde, der von den Nationalsozialisten verboten und verbrannt wurde,  schrieb Nico Bleutge in der NZZ: „So ansprechend das Buch von seinen Stoffen her sein mag, ästhetisch gesehen ist es eine Enttäuschung.“ Und  er begründete das so: „Haffner versucht sich an einem Stil, den das Fernsehen später als Sozialreportage kultivieren wird. An einzelnen Figuren sollen beispielhaft Momente einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht und Situation aufgezeigt werden. Eine Technik, bei der es um Sachlichkeit und eine Mischung aus Distanz und Nähe geht, die Haffner aber in einem fast dauernden Präsens mit wertenden, einfühlenden Sätzen unglücklich konterkariert. Hier bemüht er sich um das detaillierte Porträt eines Blutsbruders, und nur wenige Zeilen später unterlaufen ihm die härtesten Klischees über einen ,kleinen, verwitterten Juden in speckigem Kaftan’ und seinen ,Geldhunger’“.

Seit mehr als einem Jahrzehnt stellt Nico Bleutge nun schon seinem lyrischen ein kritisch-rezensorisches Werk zur Seite, er ist darüber zu einem Kartographen geworden, in dessen Weltatlas der Poesie alle Kontinente vertreten sind.  Seinen Lesern und Leserinnen erschließt er nicht nur die deutschsprachigen Regionen, die Werke von Friederike Mayröcker, Elke Erb, Sarah Kirsch, Jürgen Becker oder Rainer Malkowski, er nimmt sie mit zu Inger Christensen nach Dänemark und  Gunnar Ekelöf nach Schweden, zu Czeslaw Milosz, nach Polen zu Seamus Heaney nach Irland, zu John Burnside nach Schottland oder Derek Walcott in die Karibik, zu Les Murray nach Australien und in für viele unbekannte Regionen der südamerikanischen, asiatischen oder skandinavischen Lyrik. Und man kann mit ihm auch nach Amerika reisen, Walt Whitman kennenlernen, falls man durch „Breaking Bad“ auf ihn neugierig geworden ist, Robinson Jeffers, Wallace Stevens oder John Ashbury.

Seine Charakterisierungskunst hat Nico Bleutge in Hunderten von Rezensionen für Tageszeitungen und Zeitschriften entwickelt, aber auch in der Form des längeren Essays. Er charakterisiert nicht nur einzelne Texte und Bücher, sondern auch Werke, man lese seinen Essay über Michael Hamburger oder seine als Dankesreden entstandenen Überlegungen zu Christian Wagner oder Wilhelm Lehmann.

Nico Bleutge schreibt über die Nobelpreisträger nicht anders als über einen noch unbekannten Debütanten. „Mal vu, mal dit“, schlecht gesehen, schlecht gesagt, die knappe Beckett-Formel prägt überall seine Rezensionen, die „Wahrnehmung“ ist ihr Schlüsselwort, und das meint nicht nur, wie in manchen Regionen der klassischen Moderne, das Bündnis von Gedicht und Auge, sondern alle Sinne, auch das Hören, Tasten, Schmecken und Riechen. Und es meint auch nicht nur den Augenblickseindruck, das Gegebene, sondern ebensosehr das erst noch zu Gewinnende. Das Wort, das zum Schlüssel für die Darstellung einer Wahrnehmung wird, kann in halb vergessenen Schichten der Sprache, in einem verblassten Doppelsinn verborgen sein. Die Neigung des Lyrikers, jedem Wort die Vielzahl seiner Bedeutungen abzulauschen, kommt dem Kritiker Bleutge zugute.

In seinem Nachwort zu einer Auswahl von Gedichten Rainer Malkowskis schreibt Nico Bleutge: „Ein Gedicht ohne Wahrnehmung ist für Malkowski nicht vorstellbar. Erst die Wahrnehmung bietet uns die Welt in all ihren Einzelheiten, erst die Wahrnehmung eröffnet die Möglichkeit,, die Dinge für sich stehen zu lassen, frei von Kontexten und Kommentaren.“ Es steckt in diesem Plädoyer ein Erbteil aus den Aufbruchzeiten der ästhetischen Moderne: das Misstrauen gegen die Allgemeinbegriffe.  Die in vielen Versionen kursierende Anekdote vom Maler und Zeichner Edgar Degas, der sich an einem Sonett versucht hat und es dem Dichter Stéphane Mallarmé zur Begutachtung vorlegt, berichtet davon. Mallarmé fand das Sonett schlecht, und Degas hielt ihm entgegen, er habe aber doch viele Gedanken hineingelegt. Gedichte macht man nicht aus Gedanken, sagte Mallarmé, sondern aus Worten.

An einem Gedichtband von Les Murray hat Nico Bleutge einmal die „Vorliebe für die einfache Sprache, auch für den Slang, die gegrölten oder geflüsterten Worte der Straße“ hervorgehoben. Es interessiert den Kritiker Bleutge aber nicht lediglich die Herkunft von Worten, seien es die einer Fachsprache oder des Slang. Es interessiert ihn, was ein Autor damit macht. Wie Kerr  ist er misstrauisch gegenüber der Reduzierung des Dichters zum „Instinctler“. Kerr hatte bei diesem Begriff die alte kunstreligiöse Überhöhung des Dichters zum Wesen im Blick, das unbewusst aus verborgenen Regionen der Seele schöpft. Heutzutage hat sich das Bild des Instinctlers gewandelt. Der Geniekult hat sich in den Kult des scharfen, wilden möglichst kunstlosen Autors – und der scharfen, wilden, möglichst kunstlosen Autorin – gewandelt. Die Dichtung geht nicht mehr aus den unergründlichen Seelentiefen des Dichters hervor, stattdessen ist die vom Leben gewissermaßen ausgeschwitzte Literatur zum Ideal geworden. Die aktuelle Selbstinszenierung des Insticntlers ist daher die des Autors, der auf die „Literatur-Literatur“ pfeift und die Suggestion ins Schaufenster stellt, aus ihm spreche das Leben selbst. Auch manche Kritiker inszenieren ihren Schreibtisch als Ort des wilden Lebens inmitten von Kunstfrömmigkeit.

Der Kritiker Nico Bleutges ist misstrauisch gegenüber den Suggestionen von Unmittelbarkeit, den Tricks, die das Gemachte von Literatur scheinbar zum Verschwinden bringen, geht er nicht auf den Leim.

Er schaut nicht auf die Reklameschilder in der Schaufensterauslage, er schaut nach, wie das, was im Schaufenster liegt, funktioniert. Dieses Hinschauen kommt ohne Polemik aus, es bleibt Charakteristik, so in der gedankenreichen Rezension der Urfassung von Jack Kerouacs „On the road“, die 2010 auf Deutsch erschien. Sie beginnt mit einer um das Zauberwort „Erregung“ kreisenden Nachzeichnung des Lebensgefühls der Beatniks und nimmt dann den Roman näher in den Blick.  „Nichts war Kerouac wichtiger, als diese Intensität des Erlebens in der Sprache spürbar zu machen. Dabei orientierte er sich weniger an klassischen Romanvorstellungen (er nannte es den ,europäischen Roman’) als am Jazz. Ein ,spontaner Bop-Stil’ schwebte ihm vor, der den ,Rhythmus der Gedanken im nackten und grenzenlosen Hirn’ aufsaugen sollte, wie Ginsberg es einmal beschrieben hat. Es ist faszinierend zu sehen, wie hart sich Kerouac diesen lockeren Stil erarbeitet hat. Was oft wie im Rausch hingeworfen erscheint, wurde langwierig vorbereitet.“ Urfassungen haben immer den Charme der größeren Lebensnähe. Aber Sie ahnen, wie die Rezension  die selbstgestellt Frage beantworten wird, ob die Urfassung von „On the road“ gegenüber der publizierten das bessere Buch ist.

Warum aber heißt diese Laudatio „Wie man auf Fliegenpapier schreibt“. Weil es einen kleinen Prosatext von Robert Musil gibt, der „Das Fliegenpapier“ heißt und weil Nico Bleutge in seiner Dankesrede zum Erich Fried-Preis die Beschreibung nachgezeichnet hat, die Musil dem allmählichen Festkleben einer Fliege auf dem gelben, mit vergiftetem Leim bestrichenen etwa 30 cm langen Papierstreifen gewidmet hat. Dieser on einer lähmenden, zähen Masse überzogene Papierstreifen stand bei Musil in einer Reihe mit dem Erschrecken vor einer  Literatur, die an der „fertigen Sprache nicht nur der Zunge, sondern auch der Empfindungen und Gefühle“ haften bleibt. Musils Fliege vom Fliegenpapier wieder zu lösen, das ist eines der Ideale, dem der Lyriker Nico Bleutge nachstrebt. In seinen Rezensionen und Charakteristiken geht es in die vierte Gattung Alfred Kerrs ein: in die Kunst der Kritik.

17. März 2016, Lothar Müller