Essayband zur Flüchtlingskrise

Schlechte Zeiten in "Besondersviel"

4. April 2016
von Börsenblatt
Das wechselhafte Schicksal der Flüchtlinge, die nach Europa drängen, lässt in diesen Tagen niemanden unbewegt. Der Suhrkamp Verlag hat nun einen Band herausgebracht, der mit seinen Essays die Lage sondiert – über den Tag hinaus.

Raue Schrift auf rotem Grund, ein Ausruf: „Wie wir leben wollen“ – das erinnert an Pamphlete der 68er, an die Zeiten der politischen Gebrauchsliteratur. Der Untertitel „Texte für Solidarität und Freiheit“ greift genau diese Assoziation – und die zentralen Begriffe – auf.

"Seit fünfundzwanzig Jahren hat sich nichts geändert. Damals waren es über 400 000 Flüchtlinge. Die gleichen Befürchtungen, die gleichen Diskussionen, die gleichen Ausschreitungen, die gleiche Hilfe von denen, die keine Angst vorm Anderen haben. Springerstiefel mit weißen Schnürsenkeln gibt es heute kaum noch. Heute trägt man Anzug und gekämmtes Haar oder Funktionskleidung oder beige Windjacken. Der Rest ist eigentlich wie immer." Mirna Funk

Und doch ist diese Sammlung von Essays keine Gebrauchsliteratur. Aufklärend wirken die Stücke sehr wohl. Schriftsteller wie Stephan Thome, Inger-Maria Mahlke, Shida Bazyar, Nora Bossong nehmen sich das ganz große Thema vor die Brust: In welcher Welt leben wir eigentlich? Die zentrale Frage beantworten die Schriftsteller jede und jeder in seiner markanten literarischen Schreibe. Es sind fiktive Kurzgeschichten oder autobiografisch geprägte Essays. Ulrike Draesner berichtet aus ihrem Alltag mit einem „nicht weißen“ Adoptivkind, der aus Bosnien stammende Saša Stanišic von seiner Ankunft in Heidelberg in den 1990er Jahren. Max Orths folgt den verschlungenen Gedankenwegen eines hilflosen Helfers:

"Vielleicht legt sich das wieder, das mit den Flüchtlingen. Auch wenn man nichts tut. Nichtstun machen wir doch oft. Es geht trotzdem weiter." Max Orths

In dem Band beweisen die Schriftsteller, warum wir in wirren und aufwühlenden Zeiten wie den heutigen die Literaten brauchen: Weil ein Schriftsteller die Welt klarer, schärfer, genauer sieht und auch das noch in Worte, Bilder, Szenen fassen kann, was andere Zeitgenossen zwischen diffusem Unbehagen und ziellosen Gedankenschleifen ruhelos umtreibt. Literarische Glanzstücke sind darunter, die Leben und Literatur in eins bringen und die Bedeutungstiefen der Wortschöpfung „Flüchtlingskrise“ ausloten – bis auf den Grund der gesellschaftlichen Identitätskrise. 

"Im Emmertsgrund wohnten besonders viele Migranten. Das ist in Deutschland überall gleich – Migranten wohnen meistens irgendwo im Besondersviel. … Bosnier und Türken, Griechen und Italiener, Russlanddeutsche, Polendeutsche, Deutschlands Deutsche. Dann und wann tauchten plötzlich größere Mengen dürrer, schweigsamer Schwarzer auf, mit diesen blutunterlaufenen Augen, und da wusste man sofort – in Afrika hat es mal wieder irgendwo geknallt. Wir waren einander Nachbarn, Schulfreunde, Kollegen. Die Supermarktschlange sprach sieben Sprachen.
Die soziale Einrichtung, die sich für unsere Integration am stärksten einsetzte, war eine abgerockte ARAL-Tankstelle. Sie war uns Jugendzentrum, Getränkelieferant, Tanzfläche, Toilette. Kulturen vereint in Neonlicht und Benzingeruch. Auf dem Parkplatz lernten wir voneinander falsches Deutsch und wie man Autoradios wieder einbaut." Saša Stanišic 

"Wie wir leben wollen - Texte für Solidarität und Freiheit“.
Herausgegeben von Matthias Jügler, Suhrkamp, 199 Seiten, 10 Euro
Ein Teil der Honorare der Autorinnen und Autoren wird für Flüchtlingshilfe gespendet.

Mit Texten von Shida Bazyar, Bov Bjerg, Kristine Bilkau, Nora Bossong, Jan Brandt, Micul Dejun, Ulrike Draesner, Roman Ehrlich, Lucy Fricke, Mirna Funk, Heike Geißler, Lara Hampe, Franziska Hauser, Heinz Helle, Svenja Leiber, Édouard Louis/Geoffroy de Lagasnerie und Hinrich Schmidt-Henkel, Inger-Maria Mahlke, Matthias Nawrat, Markus Orths, Maruan Paschen, Philipp Rusch, Saša Stanišic, Stephan Thome, Senthuran Varatharajah, Julia Weber sowie Matthias Jügler (Hrsg.).