Rainer Moritz über den Trend zur Urne im Roman

Asche zu Asche

23. Juni 2016
von Börsenblatt
Wer wie Rainer Moritz ständig Neues liest, wird sensibel für Strömungen des Zeitgeists. Der aktuelle literarische Trend, den der Chef des Hamburger Literaturhauses ausgemacht hat: mit Urnen unterwegs zu sein.

Dies ist ein Hinweis für Studierende der Vergleichenden Literaturwissenschaft, die verzweifelt auf der Suche nach Themen für anstehende Masterarbeiten oder Dissertationen sind: Es gibt – das steht ganz außer Frage – eine brandaktuelle Strömung innerhalb der Weltliteratur, deren Motive im Einzelnen dringend analysiert werden müssen. Ich kann mich nicht um alles kümmern. Es geht, verkürzt gesagt, um die Neigung von Autoren, klassische Friedhofsszenen mit herkömmlichen Särgen zu meiden und stattdessen die Asche der Verblichenen auf eine Rundreise zu schicken, ehe selbige Überreste dann in alle Winde zerstreut werden. Damit lässt sich literarisch erstaunlich viel anfangen, und Figuren, die die Asche von Verwandten in eine Urne füllen und diese auf dem Autorücksitz schaukelnd durch die Welt fahren, üben einen skurrilen Reiz aus.
Wann hat das angefangen? Vielleicht mit Frank McCourts Büchern "Die Asche meiner Mutter" und "Ein rundherum ­tolles Land", in denen wir erfahren, dass die kremierten Überbleibsel der McCourt-Mutter von den Söhnen über einem Friedhof in Limerick ausgeleert werden. Oder haben wir das alles Robert Wallers so erfolgreich mit Clint Eastwood und Meryl Streep verfilmtem Roman "Die Brücken am Fluss" zu verdanken? Sie erinnern sich: Die Farmersfrau Francesca lässt sich auf eine Affäre mit dem Fotografen Robert ein, entsagt jedoch diesem neuen Glück und kommt mit dem Geliebten erst nach ihrem Tod zusammen, als ihre Kinder Francescas Asche in den Fluss unterhalb einer Brücke streuen.
McCourt und Waller haben gewissermaßen das Feld bereitet. Fast gleichzeitig mischte sich übrigens der Engländer Graham Swift mit "Letzte Runde" ein, mit einem Roman, in dem vier Männer den letzten Wunsch ihres Freundes Jack erfüllen wollen und seitenlang dessen Asche in einem Mercedes durch die Grafschaft Kent kutschieren. Danach kam, um ein prominentes Beispiel zu nennen, Terézia Mora, die 2014 mit "Das Ungeheuer" den Deutschen Buchpreis gewann. Auch dort geht es um letzte Wünsche: Hauptfigur Darius fährt quer durch Osteuropa, um die Asche seine Freundin Flora an passendem Ort in alle Winde zu blasen. Die Urne bleibt Dauergast in ­Darius’ Handgepäck und erregt bisweilen die Aufmerksamkeit korrupter Zollbeamter – verständlicherweise.
Damit nicht genug. Auch das Frühjahr dieses Jahres erweitert das Motivspektrum. In Catalin Dorian Florescus "Der Mann, der das Glück bringt" kommt mütterliche Asche bis nach Manhattan, wo sie von den Zwillingstürmen verstreut werden soll. Die Reise ist beschwerlich und endet jäh mit den Anschlägen vom September 2001. Asche vermischt sich da plötzlich mit ganz anderer Asche. Und wer stark genug ist, John Irvings neuen Roman "Straße der Wunder" nicht enttäuscht beiseitezulegen, stößt – wir sind nicht überrascht – auf eine aparte Variante unseres In-Motivs: In einer Kaffeedose vermischen sich die Aschereste gleich dreier Protagonisten, darunter ein Hippie und ein Hund.
Ach ja, selbst vor den nordischen Ländern macht dieser Trend nicht halt. Lesen Sie nur Roope Lipastis "Ausflug mit Urne", und plötzlich sind Sie mit reichlich Asche unterwegs ins ostfinnische Imatra. Was das alles zu bedeuten hat? Ob das moribunde Anzeichen unserer westlichen Kultur sind oder ob das die gewachsene Mobilität selbst unter Toten belegt? Ich weiß es nicht. Dieser Text ist ja, wie gesagt, vor allem als Anregung für neue wissenschaftliche Arbeiten gedacht.