Buchhändler-Lesetipps für Frühjahr und Herbst

Überzeugende Argumente im Sachbuch

30. Juni 2016
von Andreas Trojan
Historische Schuld und gesellschaftliche Konflikte: Buchhändlerinnen und Buchhändler stellen ihre Favoriten aus dem Frühjahr vor und nennen ihre Kandidaten aus den Herbstprogrammen.

Michael Lemling, Buchhandlung Lehmkuhl, München

Countdown zum Tabubruch hieß es im Vorfeld der Veröffentlichung. Gehört dieses Buch tatsächlich wieder in den Handel? Ein Skandal? Die kritisch kommentierte Ausgabe von Hitlers "Mein Kampf" (Institut für Zeit­geschichte, 2 Bände, 1 948 S., 59 Euro) war für mich das Sachbuch des Frühjahrs. Eine Herausforderung für jeden Buchhändler, ein Buch mit dem man sich beschäftigen musste, bevor man es ins Sortiment nahm, eine Provokation.

Kein Zweifel: "Mein Kampf" ist antisemitisch, rassistisch, militaristisch und menschenverachtend. In der Kommentierung wird aber die Neupublikation zu einem Projekt der Aufklärung darüber, wie Hitler mit Lügen und Halbwissen, Propaganda und Selbstinszenierung ein wirkmächtiges Buch geschrieben hat. Wer sich in die Kommentierung vertieft, versteht, warum der Text bei Erscheinen keinen Aufschrei des Entsetzens provozierte: Hitler schöpfte aus vielen völkischen Quellen. Was er schrieb, war längst geistiger Mainstream und lag in deutschen Buchhandlungen massenhaft aus.

Im Oktober erscheint "Gegen den Hass" (208 S., 20 Euro) von Carolin Emcke bei S. Fischer. Für mich ist sie eine der klügsten und engagiertesten Journalistinnen unseres Landes. Im Mittelpunkt ihres Essays steht die Frage, wie wir eine offene Gesellschaft gegen wachsenden Nationalismus und Rassismus verteidigen können. Von Emcke dürfen wir überzeugende Argumente erwarten.

Peter Kolling, Buchhandlung Proust Wörter & Töne, Essen

Krisenherde und Katastrophen gibt es auch im urbanen Bereich. All das und noch viel mehr spricht Walter Siebel in seinem Buch "Die Kultur der Stadt" (Edition Suhrkamp, 475 S., 18 Euro) an.

Der Autor hat die historische, architektonische und soziale Stadtentwicklung im Blick und fragt: Was macht die Stadt zu einem besonderen Ort? Siebel scheut nicht davor zurück, die Probleme anzusprechen, etwa die Stadt als Ort der Ausgrenzung oder die Terroranschläge in Paris. Dennoch definiert er den urbanen Raum als einen der Freiheit. Da eröffnet gelungenes Zusammenleben, Akzeptanz des anderen auch einen Freiraum für alle, die in der Stadt leben und deren Kultur mitprägen.

Der Essay des britischen Soziologen Zygmunt Bauman "Die Angst vor den anderen" (Edition Suhrkamp, August, 140 S., ca. 14 Euro) sticht sogleich ins Auge. Wenn in kurzer Zeit Hunderttausende Menschen ins Land kommen, stellt das für jede Nation eine gewaltige Herausforderung dar. Und dennoch wirkt es befremdlich, dass Migration praktisch alle anderen Themen von den Titelseiten verdrängt. Den Klimawandel. Die Ungleichheit. Zerfallende Staaten. Also die eigentlichen Ursachen der Migration. Zygmunt Bauman spricht angesichts der emotionalen Debatte von einer moralischen Panik. Und er stellt die Frage, wer von dieser Panik – oder Panikmache? – profitiert. Wir sind gespannt auf die zuspitzenden Thesen Baumans!

Heike Vasel, Buchladen zur schwankenden Weltkugel, Berlin

Die beiden Autorinnen Nina Schulz und Elisabeth Mena Urbitsch haben in ihrem Buch "Spiel auf Zeit. NS-Verfolgte und ihre Kämpfe um Anerkennung und Entschädigung" (Assoziation A, 368 S., 24 Euro) einige Frauen und Männer in ganz Europa und in Israel besucht und ihre Geschichten in 15 Reportagen erzählt.

Es geht nicht nur um das, was sie unter dem NS-Terror erlitten haben, sondern vor allem auch um die Gegenwart, in der sie beharrlich um Gerechtigkeit kämpfen, etwa um die Anerkennung einer Ghettorente. Erinnerungen an das Erlittene und Schilderungen der oft vergeblichen Kämpfe um Anerkennung stehen neben Alltäglichem wie Wetter, Haarefärben, Pilzesammeln. Text und Bild skizzieren diese Menschen zurückhaltend, feinfühlig und zugleich mit der gebotenen Empathie. Die ProtagonistInnen leben hier und jetzt; die Frage der Entschädigung ist aktuell, viele Rechnungen sind noch offen. Und das ist einfach ein Skandal!

Im Papyrossa Verlag erscheint im September das Buch "Die haben gedacht, wir waren das. MigrantInnen über rechten Terror und Rassismus" (220 S., 13,90 Euro). Die Perspektive der Opfer und die Erfahrungen der gesellschaftlich Betroffenen von rassistischen Angriffen und Terror erhalten in der Berichterstattung viel zu wenig Raum. Endlich ein Buch, in dem Menschen mit Migrationshintergrund Stellung nehmen und beschreiben, wie das alles auf sie wirkt: als Opfer, als Angehörige, als JournalistInnen, WissenschaftlerInnen und politisch Aktive.


Holger Schwab, Buchladen 46, Bonn

Ich kann mich zwischen zwei Büchern nicht entscheiden. Das eine ist Ta-Nehisi Coates' "Zwischen mir und der Welt" (Hanser, 240 S., 19,90 Euro).

Geschrieben in der Form eines Briefs an seinen kleinen Sohn, zeigt Coates' Buch, dass es keinen Ausweg aus dem Rassismus der Weißen (Amerikaner) gibt: Wenn sein Sohn die Straße betritt, riskiert er, von einem Weißen erschossen zu werden. Das wäre kein Unfall. Rassismus und Gewalt gegen Schwarze sind Teil der amerikanischen weißen Identität. Das ist schockierend, tief berührend und allerbeste Literatur als Sachbuch!

Der zweite Titel "Und was hat das mit mir zu tun?" (Kiepenheuer & Witsch, 256 S., 19,99 Euro) stammt von Sacha Batthyany. Sacha sitzt in seiner Redaktion am Schreibtisch und bekommt von einer Kollegin eine Zeitung auf den Tisch geknallt: "Aus was für einer Scheißfamilie kommst du eigentlich?" schnauzt ihn seine Kollegin an. Ein Massaker an 180 jüdischen Zwangsarbeitern während eines Familienfests seiner Tante ist der Anlass, sich der eigenen Familiengeschichte zu stellen. Großartig ist, dass Batthyany sich selbst und sein eigenes Interesse immer wieder mitreflektiert und dabei andere Dinge über seine Familie zutage fördert als zunächst erwartet.

Es gibt einen Titel, über den ich mich gern freuen würde: Klaus Theweleits "Männerphantasien". Dieses Buch sollte dringend wieder lieferbar gemacht werden. Denn es wird immer aktueller und ist ein ganz großes Leseerlebnis! Denn Theweleit hat die Grundlage geschaffen, Männergewalt verstehen zu können und vielleicht veränderbar zu machen!