Jochen Jung über den Verkauf von besserer und schlechterer Literatur

Überlebenskünstler

4. August 2016
von Börsenblatt
Warum sollte man absichtlich schlechtere Literatur lesen und verkaufen, wenn es bessere gibt? Wenn diese Frage doch so einfach zu beantworten wäre. Jochen Jung versucht's.

Erst kürzlich habe ich an dieser Stelle das allmähliche Verschwinden der Bereitschaft zum Lesen schwierigerer Texte beklagt. Ich war davon ausgegangen, dass Literatur, welcher Gattung auch immer, die sich mit dem komplexen "Gegenstand" Mensch auseinandersetzt, beziehungsweise von ihm erzählen will, nicht immer die einfachste sein kann, und dass es ihr erlaubt sein muss, uns ein nachdenkendes, konzentriertes Lesen abzuverlangen. Ob man dazu bereit ist, entscheiden die Leserin und der Leser selbstverständlich immer selbst, aber als lesende Gemeinschaft sollten wir immerhin wissen, was da verloren geht, wenn wir nur noch Büchern eine Chance geben, die den Menschen als Lego-Figur präsentieren.
Natürlich muss man nicht jeden Schlich eines Künstlers entdecken und nachvollziehen können, um die Botschaft und den Zauber eines Kunstwerks zu begreifen und zu genießen. Es will ja auch gar nicht alles Kunst sein, was Buch ist. Sehr vieles aber eben doch, der Buchhändler ist auch Kunsthändler.
Eine Fuge von Bach kann uns hinreißen, auch ohne dass wir jeden kompositorischen Trick und Kniff entschlüsseln. Das gilt auch für die perspektivischen Raffinessen Albrecht Dürers und den Anspielungsreichtum des "Ulysses". Fraglos ist Dostojewski ein besserer Schriftsteller als Donna Leon (sie selbst würde das als Erste bestätigen). Und warum sollte man absichtlich und vorsätzlich schlechtere Literatur lesen (und verkaufen), wenn es bessere reichlich gibt? Egal, ob es eine kleine, gelbe Broschur ist oder ein schön gebundenes Buch.
Freilich war meine Klage ein wenig hinter vorgehaltener Hand vorgebracht, denn ich hatte bei meinen Überlegungen den Buchhandel und seine Vermittlerrolle ganz ausgeklammert. Aus Angst vor einem Shitstorm? Hoffentlich nicht. Im Übrigen gilt vieles von dem, was ich mir hier wünsche, ja ebenso für die Verleger.
Der heikle Punkt ist, dass der Buchhändler zwar auch Kulturvermittler, aber eben auch Händler ist, also Geschäfte­macher, und als solcher Überlebenskünstler. Die Ferienzeit hat begonnen, und die Buchhändlerin soll ihre Kundin, die sich ihre Urlaubslektüre holen will, aus der Krimi-Ecke locken und ihr James Joyce in die Hand legen?
Ich weiß zwar nicht, warum man in der einzigen Zeit im Jahr, in der man wirklich Zeit hat, davon ausgeht, dass man sie vertreiben, wenn nicht gar totschlagen muss. Vielleicht versucht man es statt mit dem, was man früher einen dicken Schmöker nannte, doch mal mit einem der vielen Klassiker, die man immer schon mal lesen wollte. Klassiker können auch spannend sein, "Anna Karenina" etwa, Kleists Erzählungen  oder "Berlin Alexanderplatz". Dabei begegnen einem auf jeden Fall Menschen, die man in der Regel am Strand nicht findet.
Der Buchhändler hat unter den diversen Händlern in der Stadt einen guten Ruf und sein Geschäft gilt zu Recht als sympathisch. Darüber hinaus weiß er, dass man nur verkaufen kann, was man kennt. Es ist zwar keine Schande, wenn der Kunde belesener ist als der Buchhändler, aber es wäre eine Schande, wenn der Buchhändler ganz vergessen würde, warum er gegenüber den meisten Händlern den Vorteil des verminderten Mehrwertsteuersatzes hat.