Klett-Cotta-Verleger Tom Kraushaar im Interview

Anspruchsvolle Wirtschaftsbücher für viele Leser

30. August 2016
von Börsenblatt
Unter dem Titel "Ungleichheit im 21. Jahrhundert" veranstaltet Klett-Cotta gemeinsam mit dem Internationalen Literaturfestival Berlin ein Symposium über Fortschritt, Kapitalismus und globale Armut. Verleger Tom Kraushaar sprach mit Börsenblatt-Chefredakteur Torsten Casimir unter anderem über Erfolgsfaktoren für Wirtschaftsbücher.

Den Autorengipfel am 12. und 13. September im Haus der Berliner Festspiele prägen die vier Star-Autoren des Segments Wirtschaftsbuch aus dem Stuttgarter Haus: Anthony Atkinson, David Graeber, Michael Hudson und Angus Deaton. Verleger Tom Kraushaar im Gespräch über die Erfolgsfaktoren für das Wirtschaftsbuch, über den lange unterschätzten Sachbuch-Leser mit Anspruch und über den Bedarf westlicher Demokratien an Meinungsfähigkeit und gebildeter öffentlicher Diskussion.

In Ihrem Sachbuchprogramm fällt seit einiger Zeit schon auf, dass Sie sich einen Schwerpunkt zugelegt haben: das Wirtschaftsbuch. Warum?
Seit der Finanzkrise 2008, ausgelöst durch die Pleite von Lehman Brothers, hat sich ein breites Volkswissen über ökonomische Zusammenhänge und wichtige Begriffe aufgebaut. Das wurde zunächst durch eine umfangreiche journalistische Berichterstattung vermittelt. Dadurch sind Bedingungen entstanden, ernste und anspruchsvolle Bücher über wirtschaftliche Zusammenhänge einem größeren Publikum zugänglich zu machen. Das ist für uns Verlage die Basis dafür, solche Bücher erfolgreich und in hohen Absatzzahlen zu verkaufen. Vor 2008 wäre das so nicht gelungen.

Ist es wirklich das breite ökonomische Volkswissen? Oder gibt nicht vielmehr ein wachsendes Unbehagen, sich von einem unverstandenen System missbraucht zu fühlen, den Ausschlag für den Erfolg des Wirtschaftsbuchs?
Ja, das Unbehagen spielt vermutlich eine Rolle. Ich glaube nur, dass die Kapitalismuskritik, also dieses Genre einer soziologisch-politisch-kritischen Haltung, ein viel älteres Phänomen ist. Das haben wir mindestens seit den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Lange schon erkennen wir den Finanzkapitalismus oder schlicht die Gier einzelner Unternehmen und wirtschaftlicher Akteure als Auslöser eines gesellschaftlichen Übels. Das Neue ist nur, dass wir vor zehn Jahren über diese Themen nicht so erfolgreiche Bücher hätten machen können wie heute.

Dabei ist Klett-Cotta alles andere als ein traditioneller Wirtschaftsbuchverlag. Wie kam es dennoch zu dieser Profilbildung im Programm?
Ich glaube, dass es uns in der Planung der Bücher sehr zugute kommt, nicht aus der Perspektive eines klassischen Wirtschaftsbuchverlags an die Dinge heranzugehen. Bei David Graebers weltweitem Erfolgstitel "Schulden. Die ersten 5000 Jahre" haben wir das erfahren. Das hat damit zu tun, dass der Boom der Wirtschaftsbücher auch darin begründet liegt, wie die Wirtschaftswissenschaften sich geöffnet haben. Andere Disziplinen – die Ethnologie, die Soziologie, die Geschichte – werden heute von Ökonomen durchaus zu Rate gezogen. Unser britischer Autor John Lanchester meint ja zugespitzt, bei den Wirtschaftswissenschaften handele es sich in strengem Sinne gar nicht um eine Wissenschaft, im Grunde sei die Ökonomie vielmehr ein in sich geschlossenes System. Ein Modell, keine Wissenschaft. Erst jetzt, nachdem andere Disziplinen die Ökonomie aufgebrochen haben, sei Wirtschaft als Wissenschaft wieder möglich. Für eine solche interdisziplinäre Durchlässigkeit stehen Autoren wie Graeber, oder wie Michael Hudson jetzt mit seinem neuen Titel "Der Sektor". Die haben es geschafft, die innere Logik der Wirtschaftswissenschaften aufzubrechen.

In wenigen Tagen veranstalten Sie gemeinsam mit dem Internationalen Literaturfestival Berlin das Symposium "Ungleichheit im 21. Jahrhundert". Atkinson, Graeber, Hudson, Angus Deaton – Ihre vier Star-Autoren führen dort die Debatten. Ist denn der Ansatz überhaupt richtig, die Konflikte unserer Zeit als im Kern ökonomische Konflikte zu begreifen?
Es ist jedenfalls ein befreiender, zum Nachdenken anregender Ansatz. Ob da nun eher ethnische, soziale, religiöse oder ökonomische Faktoren beispielsweise im Nahen Osten den Ausschlag geben, kann ich nicht beurteilen. Aber einen Konflikt einmal konsequent als Resultat sozialer Ungleichheit zu beschreiben, ist wissenschaftlich und auch literarisch enorm produktiv. Der Ansatz hilft einem auch, pragmatisch mit solchen Konflikten umzugehen und nach Lösungen zu suchen.

Bekommen Sie Resonanz aus dem politischen Raum für Ihre Debatten, die Sie mit den Büchern anstoßen?
Die Politik kann vor den Ideen, die aus den Büchern resultieren, die Augen nicht verschließen. Anthony Atkinson, dessen "Ungleichheit" gerade bei uns erschienen ist, legt mit dem Titel ja 14 ganz konkrete politische Vorschläge auf den Tisch, wie wir in den westlichen Industrienationen die wachsende Ungleichheit bekämpfen sollten. Seine Forderungen werden in den Parteien international bereits breit diskutiert und zum Teil in die eigenen Programme übernommen. Wir sind in der Öffentlichkeit allerdings schon schwer eingelullt von dem Mainstream politischer Diskurse. Da ist es frappierend für mich, zu sehen, dass noch die plausibelsten Argumente sofort als politischer Extremismus diffamiert werden. Insofern: Ja, es gibt viel politische Resonanz, aber die ist durchaus ambivalent. Die Wucht und die Qualität dieser Bücher – das war schon bei "Schulden" so – besteht eben darin, die festgefahrenen Denkstrukturen, die uns alle zuletzt korrumpiert haben, aufzubrechen.

Demokratien können neue Gedanken gerade gut gebrauchen.
Ich würde sogar sagen: Wir haben in Deutschland mehr eine Krise der Demokratie als eine der Ungleichheit. Denn die Bedingung von Demokratie ist, dass die Leute auch wirklich mitdiskutieren, dass sie sich informiert einmischen können. Für die Demokratie sind solche Vordenker wie Atkinson oder Graeber also essenziell. Denn sie liefern eine Vorbedingung für Meinungsfähigkeit. Insoweit begreifen wir in Stuttgart unseren Schwerpunkt im Wirtschaftsbuch mit gutem Gewissen auch als Teil des Bildungskonzerns, zu dem Klett-Cotta gehört. Vielleicht ist gerade auf diesem Feld der Bedarf an plausibler, mitreißender Sachbuchliteratur am größten.

Werden intelligente, neugierige Leser von Sachbüchern zu oft unterfordert?
Die Gefahr zumindest sehe ich. Wenn Sie sich erfolgreiche Bücher in dem Segment anschauen – Piketty etwa oder auch "Die Schlafwandler" von Christopher Clark –, dann zeigt das doch die Bereitschaft vieler Menschen, Geld für sehr anspruchsvolle Sachbücher auszugeben. Diese Bereitschaft haben wir lange unterschätzt. Wir haben an die Fähigkeit der Leser, komplexe Sachverhalte über lange Strecken zu rezipieren, nicht geglaubt. Das war eine Fehleinschätzung. Jetzt erkennen wir Verleger in Deutschland unseren Irrtum und korrigieren ihn. Damit wird natürlich auch der Wettbewerb in dem Segment größer.

Mit dem Autorengipfel in Berlin wächst das Phänomen Wirtschaftsliteratur übers Medium Buch hinaus. Warum ist Ihnen das wichtig?
Natürlich ist das Symposium Teil unserer Öffentlichkeitsarbeit. Aber es ist auch einfach mal ein Experiment: Wir wollen die genannten vier Autoren gerne mal zusammen sehen. Sie prägen einen Großteil der Debatte, sie beziehen sich vielfältig aufeinander, nun sollen sie auch öffentlich und unvermittelt miteinander diskutieren. Das macht verlegerisch großen Spaß, wenn sich innerhalb eines Programms Dinge berühren, wenn Bezugnahmen entstehen. Da liegt es nahe, mit einem Debattenformat darauf zu reagieren, das sich an ein allgemeines, interessiertes Publikum richtet.

Interview: Torsten Casimir

Weitere Informationen und Programm des Symposiums "Ungleichheit im 21. Jahrhundert" finden sich auf der Website von Klett-Cotta.

Informationen zum internationalen literaturfestival berlin (ilb), das vom 7. bis 17. September veranstaltet wird, gibt es hier.