Stimmen und Einschätzungen aus der Türkei

Von Zensur und Selbstzensur

31. August 2016
von Börsenblatt
Resignation und Mutlosigkeit machen sich in der Türkei unter den Intellek­tuellen breit. »Wir sind pessimistisch«, schreibt der türkische Verlegerverband Türkiye Yayıncılar Birliği in seinem aktuellen Report über die verlegerische Freiheit im Land. Die Türkei werde immer mehr zu einem Land der Verbote. Zensur und Selbstzensur seien bereits Normalität.

Nach dem gescheiterten Militärputsch im Juli hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan schnell den Ausnahmezustand verhängt. Mit diesem mächtigen Instrument wurden unter anderem 29 Verlage geschlossen. Der Vorwurf: Sie sollen Bücher seines früheren Weggefährten Fetullah Gülen publiziert haben. Erdoğan schreibt den Putschversuch dem islamischen Prediger und seiner Bewegung zu, die weltweit aktiv ist. Sämtliche Publikationen der dicht­gemachten Verlage wurden per Dekret eingesammelt und sollen später eingestampft werden.

Doch nicht erst seit dem missglückten Putsch­versuch steht in der Türkei das Buch und damit die Meinungsfreiheit unter Druck. Nur zwei Beispiele aus dem Bericht des türkischen Verlegerverbands:
32 Jahre lang verkaufte die Buchhandlung Gül in der türkischen Kleinstadt Kırşehir Bücher und Schreibwaren. Doch seit dem 8. September 2015 gibt es den Laden nicht mehr. An diesem Tag haben protestierende Nationalisten Brandsätze in das Geschäft geworfen. Die 456 Quadratmeter große linke Buchhandlung brannte aus. Auch andere Geschäfte wurden angezündet. Die Inhaber Eşref Odabaşı und Sait Akıllı möchten das Geschäft in Kürze wiedereröffnen, aber ihre finanzielle Situation ist derzeit nicht die beste. Vom Staat gab es keinerlei Unterstützung für den Schaden, jedoch die Aufforderung, die Mehrwertsteuer für die verbrannten Bücher zu entrichten. Die Verlagsgruppe Alfa hat seit den 90er Jahren mehr als 7 000 Bücher publiziert. Der Verlag bekam in den vergangenen Monaten Probleme mit der Justiz. Zwei Bücher des Autoren Hasan Cemal und ein Werk des Journalisten Müslüm Yücel wurden verboten. Der Staat wirft ihnen Terrorpropaganda vor.


Die türkischen Kulturmacher bleiben Stumm

Verleger und Buchhändler zu finden, mit denen man über die Situation in der Türkei sprechen kann, ist in diesen Tagen sehr schwierig. »Unser Verlagsleiter ist heute nicht im Büro«, heißt es etwa bei einem großen Verlag in Istanbul. »Ich habe derzeit viel zu tun«, winkt die Geschäfts­führerin eines anderen renommierten Verlags ab. Weitere Verlage und Buchhandlungen in Istanbul, Ankara und Izmir prüfen immer noch die Anfragen des Börsenblatts. Die türkischen Kulturmacher bleiben stumm. Ein Grund für die Zurückhaltung ist sicherlich der nationale Feiertag am 30. August, an dem nicht gearbeitet wird; ein anderer die berechtigte Angst vor staatlichen Repressalien. Fürchten müssen sich »Unliebsame« zudem vor marodierenden Gruppen, die jeden Abend mit Autos und Fahnen als »Demokratiewächter« hupend in den Städten umherfahren.

Die französische Literaturzeitschrift »Lire« zählte Aslı Erdoğan einst zu den 50 wichtigsten Schriftstellerinnen der Zukunft. Nun sitzt sie im Gefängnis. Der zierlichen und scheuen Literatin werden schwere Delikte wie die Mitgliedschaft bei einer illegalen Organisation und Volksverhetzung vorgeworfen. Der bekannte Musiker und Schriftsteller Zülfü Livaneli schreibt in der Tageszeitung »Cumhuriyet«, dass durch diese Verhaftung der Staat mit seiner Hand seine Zunge abschneiden würde. Denn: »Intellektuelle, Autoren, Karikaturisten und Philosophen sind die Zunge eines Landes, einer Gesellschaft«, so Livaneli. Für die Bestsellerautorin Ayşe Kulin ist die Verhaftung eines Schriftstellers wie das Abschießen eines fliegenden Vogels. Falls Aslı Erdoğan irgendetwas zustoße, würde man die Schuld erneut ihrem einsamen und unglücklichen Land zuschreiben, schreibt sie in ihrer »Cumhuriyet«-Kolumne. Ihr Appell an die Regierenden: »Meine Herren, schießen Sie nicht auf fliegende Vögel, es nutzt niemandem!«


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