Wie die brasilianische Buchbranche mit dem Strukturwandel umgeht

Ideenreich aus der Krise

1. September 2016
von Börsenblatt
Die Wirtschaftsflaute beschert dem brasilianischen Buchmarkt ein dickes Minus. Verlage und Buchhändler halten mit Restrukturierung und neuen Angeboten dagegen.

Man fühlt sich in eine andere Zeit versetzt, wenn Al­fredo Weiszflog die Tür zur Bibliothek seines Verlags ­öffnet. Ein wuchtiger Schreibtisch steht inmitten deckenhoher Buchregale. Hier, im Zentrum São Paulos, finden Besucher das gesammelte Verlagsprogramm der vergangenen 100 Jahre. Weiszflogs Großvater kam als Einwanderer aus Deutschland nach Brasilien. Er gründete zuerst eine Papierfabrik und dann den Verlag Melhoramentos, heute ein Schwergewicht im brasi­lianischen Verlagswesen. Krisen? Ja, die gab es zur Genüge. Als in den 80er Jahren die Preise wöchentlich wechselten. Oder 1999, als der Real um die Hälfte einbrach. "Wir wachsen mit den Krisen", sagt Weiszflog – in perfektem Deutsch.
Heute, im Jahr 2016, steckt der brasilianische Buchmarkt abermals in der Krise. Die Zahlen, die das Forschungsinstitut Fipe im Auftrag des brasilianischen Branchenverbands Câmara Brasileira do Livro (CBL) und des Verlegerverbands Sindicato Nacional dos Editores de Livros (SNEL) diesen Monat vorgelegt hat, sind so ernüchternd, dass der brasilianische Branchendienst "Publishnews" vom "verlorenen Jahrzehnt" spricht.
Sowohl die Umsätze auf dem freien Markt als auch die Ankäufe von Büchern durch die Regierung sind stark zurückgegangen (­siehe Grafik). Die Kaufzurückhaltung des Staats, bedingt durch die Wirtschaftskrise, trifft Verlage besonders hart. Dazu muss man wissen, dass der Staat für den brasilianischen Buchmarkt eine mächtige Rolle spielt. Die Staatseinkäufe für Schulen und Bildungseinrichtungen machen knapp ein Viertel des Gesamtumsatzes aus. 2015 verkauften die Verlage 15 Prozent weniger Bücher an den Staat als im Vorjahr, der Rückgang ist hier nahezu doppelt so hoch wie im sonstigen Markt. 2016 setzt sich dieser Trend fort. Vergleicht man den Verlagsumsatz mit der Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts, konnte der Buchmarkt mit der allgemeinen Entwicklung nicht Schritt halten (siehe Grafik unten).

Strukturwandel 
Wie reagiert die Buchindustrie auf die anhaltende Krise? Carlo Carrenho, Chef von "Publishnews", sieht drei Trends:

  • Professionalisierung: Unternehmen sind zu tiefgreifendem Strukturwandel und zur Prozessoptimierung gezwungen, wenn sie überleben wollen. Sowohl Buchhandlungsketten wie Saraiva (112 Filialen) als auch Verlage wie Melhoramentos berichten von groß angelegten Projekten zur Effizienzsteigerung. Abläufe bei Verkauf und Datenpflege kommen auf den Prüfstand. Neue IT-Systeme werden installiert, um den manuellen Aufwand möglichst gering zu halten (siehe auch Bericht zu Books in Print Brasil). Der Verlegerverband SNEL hat kürzlich mit einem Vorschlag zur besseren Überwachung von Verkaufszahlen im Buchhandel für Furore gesorgt.
  • Marktforschung: Verlage wollen genau verstehen, wie sich der Markt bewegt. Im Frühjahr erschien die umfangreiche Leserstudie "Retratos da Leitura". Außerdem liefert SNEL über eine Kooperation mit dem Marktforschungsunternehmen Nielsen eine nunmehr monatliche, offen zugängliche Auswertung der Verkaufszahlen.
  • Investoren: Brasilien ist weiterhin auf dem Radar aus­ländischer Investoren. So erwarb die Verlagsgruppe Penguin Random House 45 Prozent am renommierten brasilianischen Verlag Companhia das Letras. Trotz unklarer politischer Entwicklung hält die Investitionsfreude an.


Lizenzflaute 
Die Wirtschaftskrise hat auch zu einem leichten Rückgang deutscher Lizenzvergaben nach Brasilien geführt. 2010 lag Brasilien mit 157 Abschlüssen sogar noch vor den USA (148 Abschlüsse). 2014 stand Brasilien im Ranking der wichtigsten Handelsländer deutscher Verlage auf dem amerikanischen Kontinent mit 124 Rechtekäufen nur noch auf Platz 3 (Quelle: "Buch und Buchhandel in Zahlen"). Auch ­Alexandre Martins Fontes, Geschäftsführer des Verlags WMF Martins Fontes, wird in diesem Jahr keine Lizenzen einkaufen: "Ich habe noch Buchrechte in der Warteschleife, die ich aufgrund der wirtschaftlichen Situation bisher nicht realisieren konnte."
Geld in die Kassen der brasilianischen Verlage spült der richtige Riecher für Inhalte. Bücher von YouTubern und Bloggern sind derzeit besonders gefragt. Laut einer Auswertung des Marktforschungsunternehmens GfK wurden vier der zehn meistverkauften Titel dieses Jahres von den Videostars geschrieben: "Authenticgames. Vivendo uma Vida Autêntica" von Marco Túlio, "Dois Mundos, um Herói" von Rezende Evil, "Muito Mais Que Cinco Minutos" von Kéfera Buchmann  und "Segredos da Bel para Meninas" von Bel & Fran. Auf der Buchmesse Bienal Internacional do Livro in São Paulo, die noch bis zum 4. September geht, ziehen die Onlinestars eine so große Fangemeinde an, dass die Messe für Autogrammjäger ein Ticketsystem eingeführt hat.

Neustart 
Bei Melhoramentos ist das straffe Restrukturierungsprogramm derweil voll im Gange. "Wir erfinden die Firma neu", so Weiszflog. Von 110 Mitarbeitern im Vorjahr beschäftigt das Unternehmen heute nur noch die Hälfte. Die Zahl der Neuerscheinungen schrumpfte von 150 im Jahr 2014 auf 62 im aktuellen Jahr. Es wird aber nicht nur gespart, sondern auch investiert: Die Abteilung für Neuprojekte wurde ausgebaut. Eine Rezeptedatenbank ist in Arbeit, genauso wie Projekte im Bereich Corporate Publishing. Und eine Tradition wird nicht gebrochen: Im Oktober fliegt Alfredo Weiszflog nach Deutschland. Es ist sein 29. Besuch der Frankfurter Buchmesse.

BUCHMARKT BRASILIEN (1)

Im vergangenen Jahr haben die 500 Verlage und mehr als 3.000 Buchhandlungen in Brasilien einen Umsatz von insgesamt 1,21 Milliarden Euro erwirtschaftet – das Angebot umfasste über 52.000 Buchtitel, davon mehr als 17.000 Novitäten.

Die 5 umsatzgrößten Verlage (ohne Staatskäufe, ohne Schulbuch):
Sextante, Companhia das Letras, Record, Intrinseca, Globo

Die 5 größten Buchhandelsunternehmen (nach Anzahl der Filialen):
Saraiva (112), Leitura (62), Curitiba (24), Cultura (18), FNAC (12)

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