Interview mit Wolf Biermann

"Die einzige Utopie, die ich noch akzeptiere, ist die Liebe"

14. Oktober 2016
von Börsenblatt
Dass die DDR ihn nach seinem Kölner Konzert vor 40 Jahren ausbürgerte, war nicht nur ein persönlicher Schock: Mit diesem Schritt läutete das Regime seinen eigenen Untergang ein. Wolf Biermann über die leidvolle Abkehr vom Kommunismus und seine neue Autobiografie.                  

Sie gelten als der bedeutendste Songpoet Deutschlands – als Nachfahre François Villons und Heinrich Heines, als Zeitgenosse Bob Dylans. Wie ging Ihnen die Autobiografie von der Hand, immerhin knapp 530 Seiten Prosa?
Prosa liegt mir nicht besonders. Ich bin ein Poesie-Sprinter, kein Prosa-Langstreckenläufer. Jede Zeile meines Buchs habe ich zwar geschrieben, aber zusammengefügt hat es meine Frau Pamela. Sie hat auch die 10 000 Seiten rausgeschmissen, die in dem Buch fehlen. Dazu gehört, dass man sich von der einen oder anderen Lieblingsidee verabschiedet: Du hältst etwas für ganz toll – und haust es weg, zugunsten der großen Struktur des Stoffes. Die Hollywood-Drehbuchschreiber nennen das »Kill your darling«. Oder wie Goethe einmal gesagt haben soll: »Den Meister in der Malerei erkennt man nicht am Glanzlicht auf dem Pferdearsch im Schlachtengemälde, sondern an der Komposition des Ganzen.«

Die geschilderten Erinnerungen reichen bis in die frühe Kindheit zurück. Was ist daran Dichtung, was Wahrheit?
Es ist nur Wahrheit. Meine Dichtung verbrauche ich fürs Dichten. Obwohl, eine Stelle gibt es, die mit meinem von den Nazis ermordeten Vater Dagobert, der für mein Leben von übergroßer Bedeutung war: Beim wichtigsten Konzert meines Lebens, vor 40 Jahren in Köln, kreuzte er auf der Auschwitz-Wolke gerade übers Rheinland, sprang herab und setzte sich wie das Äffchen eines Leierkastenmannes neben mich auf das Harmonium. Und warnte mich mit bleckenden Zähnen davor, die schlimmsten Lieder zu singen – zum Beispiel die »Stasi-Ballade«. Denn ich wollte ja auf jeden Fall zurück in die DDR. Aber selbst wenn dies eine dichterische Phantasie ist, erzählt es doch die Wahrheit.

Mit Ihren Wahrheiten haben Sie nicht nur die »verdorbenen Greise« im Politbüro, sondern auch viele (Alt-)Linke im Westen vor den Kopf gestoßen, die sich in ihren Welt- und Feindbildern eingemottet hatten – auch Günter Grass gehörte dazu...
Immerhin habe ich ihm einiges zu verdanken. Als ich im November 1976 meine Fahrt nach Köln antreten durfte, traf ich zuerst in West-Berlin ein, wo mich Günter Grass in Empfang nahm. An dem einen Abend, den ich dort hatte, arrangierte er eine Art Privat-Generalprobe für mein Köln-Konzert und lud dazu 20, 30 seiner Freunde ein. Und danach nahm er mich ins Gebet und sagte unter vier Augen: Mit diesen nur neuesten Liedern kannst Du auf keinen Fall in Köln auftreten. Mindestens die Hälfte der Lieder müssen Lieder sein, die alle schon kennen! Deswegen kommen die Leute ja! – Da habe ich meinen Programmzettel umgeschrieben. Ich werde es ihm immer hoch anrechnen, dass er als guter Kumpel mir diesen Rat gegeben hat.

Wenige Tage nach dem Konzert am 13. November und einen Tag nach Ihrem 40. Geburtstag, am 16. November 1976, erfuhren Sie aus dem Radio von Ihrer Ausbürgerung. War das ein Schock?
Ich war in panischer Angst. Ich dachte wirklich, dass ich sterben muss, das heißt vielmehr: der Dichter Biermann, der »poète chanteur«. Alles, woran ich mich gerieben hatte, war plötzlich weg. Von einem Tag auf den anderen war ich in eine andere, unbekannte Gesellschaftsordnung geworfen, in der ich zunächst wie ein Anfänger herumirrte und nicht wusste, wo vorne und hinten ist. Ich hatte nicht nur meine guten Freunde im Osten verloren, sondern auch meine treuen Feinde – die mir übrigens bis heute treu geblieben sind. Dann lernte ich, dass es auch falsche Feinde gibt, nicht nur falsche Freunde. Im Streit der Welt passiert es, dass man Leute für Feinde hält, die es gar nicht sind, und geht in die Irre. Damals schrieb ich in meinem Bloch-Lied »Und als ich von Deutschland nach Deutschland gekommen bin in das Exil«. Das empörte viele Leute. »Was, der kommt ins Exil?« Entweder ist der hysterisch oder ein wenig verwirrt. Der soll doch froh sein, dass er jetzt bei uns ist.

Gibt es für Sie noch eine Utopie nach dem Ende des Kommunismus?
Der Traum von einer besseren Welt ist uralt wie die Menschheit. Und Marx, Engels und Lenin haben ihn auch geträumt. Doch es gibt einen bemerkenswerten Satz von Helmut Schmidts Leib- und Magenphilosoph Karl Raimund Popper, der geht so: »Die Hybris, die uns versuchen läßt, das Himmelreich auf Erden zu verwirklichen, verführt uns dazu, unsere gute Erde in eine Hölle zu verwandeln.« Doch das ist nicht genug: Wer, zynisch gesprochen, die marxistische »Endlösung« der sozialen Frage will, gerät – und das ist der Unterschied: zwangsläufig in die Hölle. Auch wenn die einzelnen Exemplare in diesem Tierversuch am lebendigen Menschen ehrlich sind, tapfer sind, klug oder menschlich und oft ihr Leben einsetzen – wie viele der Menschen, mit denen ich aufgewachsen bin –, landen sie dabei in der Hölle. Das ist der einzige Grund, weshalb ich Kommunistenkind kein Kommunist mehr sein kann.

Haben Sie mal einen Rückfall erlitten?
Natürlich bin ich noch manchmal in die alten Illusionen zurückgefallen, aus sentimentaler Schwäche. »Ach, wie schön wäre es doch, Kommunist zu sein«. Lesen Sie mal mein Gedicht »Heimweh«, das
ich ans Ende des Buchs gestellt habe – »die alte Sehnsucht macht mich manchmal noch besoffen / Spür nächtens den Phantomschmerz aus dem Paradiese«.

Wie kam es denn zur Vertreibung aus dem Paradies?
Es war letztlich eine heilsame Ent-Täuschung. Und ich habe es meinem Pariser Freund Manès Sperber zu verdanken, dass er mir den unrettbaren kommunistischen Zahn gezogen hat. Sperber war das Muster eines treuen Renegaten.

Das war 1983 …
Zugleich das Jahr, in dem ich meine Frau Pamela kennenlernte. Dieses Jahr war ein Drehpunkt in meinem Leben, wie Brecht gesagt hätte. Ich hatte mich vorher dumm und dusselig gesucht. Die einzige Utopie, die ich heute noch akzeptiere, ist die Liebe. »Mein Weib, du bist Utopia für mich geblieben«, heißt es in »Heimweh«. Und in meinem jetzt erstmals in der Sammlung »Im Bernstein der Balladen« veröffentlichten Gedicht »Der Kuss« habe ich die Schöpfungsgeschichte neu interpretiert: Da heißt es am Ende nicht »Im Anfang war das Wort« oder »die Tat«, wie in Goethes »Faust«, sondern der »Kuss«.

Biermanns neue Bücher
Wolf Biermann: »Warte nicht auf bessre Zeiten! Die Autobiographie«. Propyläen Verlag, 536 S., 28 Euro
Wolf Biermann: »Im Bernstein der Balladen. Lieder und Gedichte«. Propyläen Verlag, 240 S., 24 Euro