Ein Besuch im neuen Buchmesse-Areal "TheArts+"

Die Kunst des Algorithmus – oder Googles gigantischer Kuratorentisch

20. Oktober 2016
von Börsenblatt
Einen schwindelerregenden Blick in die Labore des Google Cultural Institutes konnten Fachbesucher beim neuen Schwerpunkt TheArts+ werfen. Die Messe in der Messe versammelte die gesamte Kreativindustrie am Mittwoch zu einer Konferenz, die zum Auftakt Gutenberg feierte – und in den Stunden danach die großen Fragen der Digitalisierung stellte.

Welches Messe-Mitbringsel hätten Sie denn gern? Eine Seite aus der Gutenberg-Bibel, gefertigt im Handpressendruck? Oder eine kleine Gutenberg-Figur aus Kunststoff, frisch produziert vom 3D-Drucker? Der Stand des Mainzer Gutenberg-Museums in Halle 4.1 bietet beides – und zeigt damit wie in einem Brennglas die Pole, zwischen denen sich Verlage und Autoren, aber ebenso Museen, Künstler, Fotografen, Designer und Architekten mittlerweile bewegen.

Für Jeff Jarvis, US-Journalist und Bestsellerautor ("What would Google do?"), war Gutenberg der erste Technologie-Unternehmer der Welt: "Content ist eine Gutenberg-Idee", so Jarvis in seiner Keynote zur Konferenz "TheArts+". Auf der Buchmesse und speziell auf der Fläche von "TheArts+" sind viele von Gutenbergs digitalen Erben zu besichtigen – etwa Google mit seinem Google Art Project, das Giorgia Abeltino vom Google Art Institute präsentierte.


Museale Kunst trifft auf "Machine Learning"

Vor fünf Jahren hat Google damit begonnen, die Bestände von Museen zu digitalisieren, virtuelle Rundgänge und hochauflösende Zooms zu ermöglichen. Beim Start waren 17 Museen mit an Bord, heute sind es 1.200 Häuser, die ihre Sammlungen bei Google in dieser Form zugänglich machen – für Abeltino auch ein Weg, um den Zugang zu Kultur zu "demokratisieren". Sechs Millionen Objekte weltweit sind mittlerweile in dieser virtuellen Kollektion versammelt – und das Google Cultural Institute arbeitet in seinem Pariser Kreativlabor daran, das Potenzial dieser Fülle noch besser zu erschließen, etwa durch "Machine learning".

Dank guter Metadaten und dem Tool "Curator's Table" lassen sich die Kunstwerke in Form kleiner Piktogramme sortieren wie auf einem gigantischen Kuratorentisch: Nach Farben, Motiven, Epochen. Sucht man unter dem Stichwort Ähnlichkeiten, dann ordnet sich die Heerschar der digitalisierten Kunstwerke per Mausklick zu einer Landschaft aus Motivfamilien, formt virtuelle Hügel, Bergketten und Täler aus Pferdebildern oder Kinderporträts. Jedes einzelne davon lässt sich aus der Masse herauszoomen und bis ins Detail betrachten. Noch ist der "Curator's Table" nicht marktreif, sondern in der Entwicklung – doch das Konferenzpublikum sah und staunte. Und fürchtete sich vielleicht auch ein wenig vor der neuen digitalen Expertise, die sich damit in der Kunst auftun könnte.


Ein Experiment, das mehr ist als technische Spielerei

Ähnlich verblüffend: Das niederländische Projekt "The next Rembrandt", ebenfalls Konferenzthema bei "TheArts+". Mit seinen Partnern, zu denen die Werbeagentur JWT, Microsoft und das Museum Mauritshuis in Den Haag gehören, steht es für viele neue Kooperationsformen im Kunstbereich. Die (vereinfachte) Idee dahinter: Rembrandts Bilder digitalisieren, die Daten sammeln, auswerten – und daraus mit modernster Drucktechnik, die sogar die Stärke der Pinselstriche detailgenau nachvollzieht, ein ganz neues Rembrandt-Werk erschaffen, das erste seit 1669.

Das Ergebnis, die Kunst des Algorithmus, ist auf der Buchmesse zu besichtigen, auf dem Areal von "TheArts+" - und soll am Ende natürlich viel mehr sein als technische Spielerei. Gut möglich, dass sich auf diese Weise bald schadhafte Bilder restaurieren lassen oder die Echtheit von Kunstwerken noch eindeutiger überprüft werden kann, wie Bas Korsten von JWT auf dem Podium deutlich machte.


Die Frage nach Original und Fälschung

Gleichzeitig wirft das, was Technik heute kann, selbst die Frage nach Original und Fälschung auf. Wie sieht ein Künstler wie Tobias Rehberger, Professor an der Städel-Schule in Frankfurt, die Entwicklung? Was macht er, wenn jedermann seine Leuchten und Objekte daheim auf dem 3D-Drucker nachmachen kann? Rehberger sieht das (noch) entspannt: Seine Lampen seien schon von Firmen kopiert worden, ohne Lizenz – und er selbst sei in der privilegierten finanziellen Situation, nicht dagegen vorgehen zu müssen.

Was denjenigen bleibt, die weniger privilegiert sind: Nicht zuletzt darum geht es bei „TheArts+“. Das Copyright brauche im digitalen Zeitalter eine neue Struktur, einen neuen rechtlichen und technischen Rahmen – und die Kreativität Unterstützung, so Jeff Jarvis in seiner Konferenz-Keynote. Medienunternehmerin und Nicolai-Verlegerin Christiane zu Salm, die TheArts+ zusammen mit Holger Volland von der Frankfurter Buchmesse initiiert hat, formulierte es so: "Wir müssen hier auch übers Geschäft reden, denn ohnedem gäbe es keine Kultur, keine Kunst."

Übers Geschäft und über Kooperationen, über Digitalisierung und Copyright-Fragen wird in den nächsten Tagen bei "TheArts+" in Halle 4.1 weiterdiskutiert. Mehr zum Programm, das neben Kunst, Fotografie und Literatur auch Mode, Musik und Computerspiele einbindet, unter www.theartsplus.com. Ein Interview, das boersenblatt.net im Vorfeld mit Christiane zu Salm geführt hat, lesen Sie hier.