Diskussion mit Timothy Garton Ash und Bernhard Pörksen im Weltempfang

Plädoyer für eine "robuste Zivilität"

21. Oktober 2016
von Börsenblatt
Im Weltempfang ging es heute Nachmittag um die Bedingungen der Redefreiheit im Internetzeitalter. Der britische Historiker Timothy Garton Ash und der Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen diskutierten über Regeln der offenen Kommunikation, die auch den Leugnern jeder freien Auseinandersetzung gewachsen sind.

Zehn Prinzipien für die Kommunikation im Internet hat der britische Historiker Timothy Garton Ash in seinem jüngsten Buch "Redefreiheit" (Hanser) formuliert. Wie dringend notwendig ein Rahmen ist, der die Diskussion in der Gesellschaft regelt, machten die "Ozeane des Hasses" (Ash) deutlich, die sich im Netz ausbreiten.

Aggressive Postings bis hin zu Todesdrohungen haben die Kommunikation im Internet verroht und stellen eine massive Gefahr für die Redefreiheit dar. "Die schärfste Bedrohung der Meinungsfreiheit", so Ash, "ist das Veto des Mörders", wie das Beispiel der ermordeten Journalisten von "Charlie hebdo" gezeigt habe. Besonders schlimm sei der von solchen Taten ausgehende Einschüchterungseffekt ("chilling effect"), der Selbstzensur aus Angst zur Folge habe. Der Staat, die Zivilgesellschaft, die Verlage, die Autoren und die Leser müssten alles tun, um dem entgegenzuwirken.

Was die Verbreitung von Gewalt im Internet begünstigt? "Die Zugänglichkeit, das Gefühl der Anonymität, die Tatsache, dass man den anderen nicht sieht", so der Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen. Was bei der anonymen Kommunikation fehle, sei die Erfahrung der Reaktion des anderen, eine bestimmte Geste, eine Träne im Auge, ein entsetzter Blick. Pörksen nannte als weiteres Gewaltphänomen einen aggressiven Sexismus gegenüber jungen, selbstbewussten Frauen, der sich ebenfalls im Netz breitmache. Auch darin liege eine Gefahr für die Presse- und Meinungsfreiheit.

Um eine Kultur der Meinungsfreiheit im 21. Jahrhundert zu schaffen, müsse man den Weg zu einem "universaleren Universalismus" einschlagen, der nicht mehr durch eine "weiße", "europäische" Agenda bestimmt sei. Dies könne nur gelingen, "wenn wir mit offenen Ohren mit Menschen anderer Kulturen sprechen", so Ash. Sein Buch liefere kein fertiges Rezept, sondern lade vielmehr zu einer weiteren Debatte ein.

Meinungsfreiheit bewege sich zwischen den Polen eines empathischen Liberalismus, der alles duldet, und einem Paternalismus, der die Meinungsäußerung lenkt und den Sprecher bevormundet, so Pörksen. Man müsse Kriterien suchen, anhand derer sich bestimmen lässt, wann ein Dialog beginnt und wann er endet - etwa dann, wenn über die Grundlage des Gespräch keine Einigkeit mehr herzustellen ist. Wenn zum Beispiel Donald Trump behauptet, er habe ein Rededuell gewonnen, obwohl alle Beobachter einhellig das Gegenteil feststellen.

Pörksen fragte, wie man mit einem Gegenüber umgeht, das die Prämissen der offenen Kommunikation negiert. "Braucht die schweigende gesellschaftliche Mitte nicht eine Art Militanz? Ist sie wehrhaft genug?" Ash brachte eine "robuste Zivilität" ins Spiel, eine widerstandsfähige Streitkultur, die dazu befähige, Konflikte friedlich zu lösen.

Als ein gravierendes Problem betrachten Ash und Pörksen die Kontrolle der Meinungsfreiheit durch private Supermächte wie Facebook und Google. "Wenn Facebook ein Land wäre, dann wäre es mit 1,7 Milliarden Nutzern das größte Land der Welt". Und dieses "Land" sei dabei, amerikanische Normen und redaktionelle Entscheidungen auf die gesamte Welt zu übertragen. Erschreckend sei der Fall des von der norwegischen Zeitung "Aftenposten" auf Facebook eingestellten Fotos aus dem Vietnam-Krieg. Weil dieses Bild, eine Ikone der Kriegsfotografie, ein nacktes vietnamesisches Mädchen auf der Flucht vor Napalm-Bomben zeige, hätten die Algorithmen es wegen des Kriteriums der Nacktheit ("nudity") herausgefiltert. Wegen solcher Zensurakte müsse Druck auf Facebook und Google ausgeübt werden.

Moderiert wurde die Veranstaltung von dem Autor und Literaturvermittler Thomas Böhm.