Aufregende Hörbuch-Novitäten

Stimmen aus der Vergangenheit

17. November 2016
von Börsenblatt
Welche herausragenden Hörbücher sollte man in diesem Herbst keinesfalls verpassen? Unser Spezialist Wolfgang Schneider hat sich auf die Suche gemacht – und dabei viele geschichtliche und biografische Stoffe entdeckt.

Für Joseph Goebbels war das Radio "das allermodernste und allerwichtigste Massenbeeinflussungsmittel". Es sollte die Menschen mit der Propaganda "so innerlich durchtränken, dass überhaupt niemand mehr ausbrechen kann". Weil die Gegner des Nationalsozialismus aber um die geradezu kultische Bedeutung des Radios im Dritten Reich wussten, bemühten sie sich, das Medium zu kapern. Etwa 100 "geheime Sender" betrieben Aufklärung. Sie zu hören, war mit hohem Risiko verbunden. Es ist eine faszinierende Mediengeschichte des Widerstands, die Hans Sarkowicz nun in einem zehnstündigen Feature aufbereitet hat – eine akustische Zeitreise in den Radiokrieg: "Geheime ­Sender. Der Rundfunk im Widerstand gegen Hitler" (Der Hörverlag, 8 CDs, 29,99 Euro). Zu hören sind, eingebettet in differenzierte Hintergrundkommentare, viele Originaltöne: Reden, Lieder, Sketche, Hörspielausschnitte, Mahnreden und jene "Geisterstimmen", die sogar in Hitlers Silvesteransprache 1944 hineinfunkten. Zu den beeindruckendsten Stimmen gehört die des jungen Golo Mann, der mit distinkter Klarheit im letzten Kriegsjahr über amerikanische Sender zu den Deutschen sprach und sie vom Kampf bis zum bitteren Ende abhalten wollte: "Ein deutscher Sieg ist heute so unmöglich wie die Eroberung des Vollmonds."

Womit wir bei den Manns sind. Schon sich selbst ist die repräsentative Familie mythisch geworden. Sie wussten, eines Tages würden "sehr interessante Broschüren" über sie geschrieben werden, wie Klaus Mann kokett formulierte. Als ein britischer Journalist das Wort von der "amazing family" prägte, übernahmen sie es gern, fanden aber nicht, dass damit etwas Neues gesagt sei. Nun gibt es ein akustisches Familienporträt in Briefen – "Die Briefe der Manns. Ein Familienporträt" (Herausgeber: Tilmann Lahme u. a., Der Hörverlag, 7 CDs, 24,99 Euro) –, gelesen von zwölf Schauspielern. Es ist ein Hörvergnügen, weil die Manns allesamt begnadete Briefschreiber waren, insbesondere auch die gewitzte Katia Mann, hier von Corinna Harfouch gesprochen. Bisweilen scheint es, als hätten sie sich bereits als Mitglieder eines höheren Boulevardtheaters verstanden, wo man sich die Zitate und Denkwürdigkeiten für die Zukunft nur so um die Ohren warf. Die inszenierte Lesung bringt das Theatralische dieser Rollenspiele und Monologe deutlicher zum Ausdruck als die trockene Lektüre. Ein Glücksfall ist die Besetzung Thomas Manns mit Max Volkert Martens. Dank seiner markanten Lesart hört man die Briefe nun ganz anders: lakonischer, weniger gravitätisch, weniger geziert. Kurios sind die Euphemismen und Diminutive für Drogen, die zum familieninternen "Mann-Sprech" ­gehören. Der Mutter gilt die schwere Morphinabhängigkeit von Klaus als "kleinbürgerliches Laster". Was dann ein großbürgerliches wäre, möchte man lieber nicht wissen.

Der ungewöhnlichste Briefband kommt derzeit allerdings aus dem alten Rom. Cicero, Mark Anton, Brutus, Livius, Ovid, Kleopatra, Octavia – berühmte Männer und Frauen haben sich viel mitzuteilen über ihre Intrigen, Leidenschaften und Widersprüche in John Williams’ dokumentarisch unterfüttertem Roman "­Augustus" (mit Hanns Zischler, Ulrich Noethen, Jule Böwe u. a., Der Hörverlag, 2 MP3-CDs, 22,99 Euro). Die Hörbuch­fassung setzt das Kaleidoskop der Perspektiven – neben Briefen gibt es Tagebucheinträge und Memoiren – mit über 30 Stimmen aufwendig in Szene. Entstanden ist ein so ambitioniertes wie spannendes Bildungserlebnis über eine plötzlich ziemlich ­modern anmutende Ära der Verschwörungen.

Joseph Conrads "Herz der Finsternis" (Orson Welles, Hörspiel, DAV, 2 CDs, 16,99 Euro) ist ebenso ein Klassiker der Moderne wie die kon­geniale Filmadaption "Apocalypse Now" von Francis Ford Coppola. Nun gibt es einen weiteren, ungewöhnlichen Zugang zu dem Stoff, bei dem sich allein die Entstehungsgeschichte wie ein Roman ausnimmt. Der junge Orson Welles plante bereits eine Verfilmung, die den Stoff ebenfalls in die Gegenwart transponiert hätte – bei Coppola war es der Vietnamkrieg, bei Welles wäre es das Jahr des Weltkriegsbeginns 1939 gewesen. Allerdings kam sein Film nie zustande. Erhalten blieb das Drehbuch, das neben Conrads Novelle nun die Grundlage für ein faszinierendes Hörspiel unter der Leitung Walter Adlers liefert. Die Regieanweisungen und die verbalen Kamerafahrten stimulieren die Imagination. Die opulente Musik ruft die Klangwelt alter Schwarz-Weiß-Filme in Erinnerung. Der mysteriöse Kurtz erweist sich bei Welles als Geistesverwandter Hitlers. Gesprochen wird er im Hörspiel von Ulrich Matthes. Den Kongoreisenden Charles Marlow spielt Sylvester Groth – ein Meister der verschwörungsleisen Töne und des Unheimlichen.

Die Atmosphäre des Noir ruft auch das Gespräch auf, das der Schriftsteller Frank Witzel mit dem Kulturwissenschaftler Philipp Felsch geführt hat. Es überträgt den Begriff, der zuerst auf die dunkle Atmosphäre in den amerikanischen Kriminalfilmen der 40er Jahre gemünzt wurde, auf die Bundesrepublik als Nachfolge-Gesellschaft des Dritten Reichs, die unter ihrem Wirtschaftswundergebäude viele Leichen im Keller hatte. Kindheitsängste, die sich an legendäre Mörder, Triebtäter, Entführer und Terroristen hefteten, schienen untergründig an dieses Grauen zu rühren. Haben die Autoren den Farbfilm und die bunte Popkultur vergessen? Egal, sehr entspannt ist die Atmosphäre dieses anregenden Gesprächs, der Ton leise und intim, als sollten die im Nebenraum schlafenden Enkelkinder der Republik nicht aufgeweckt werden – "BRD noir" (Speak low, 2 CDs, 14 Euro).

Unter den Autorenlesungen ragt Joachim Meyerhoffs Live-Performance seines Romans "Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke" (Random House Audio, 10 CDs, 21,99 Euro) heraus – kaum erstaunlich, wenn der Autor selbst ein Schauspieler ist, der für seine Verausgabungsexzesse gefeiert wird. Der dritte Band seines autobiografischen Zyklus schildert – nach der Kindheit auf dem Gelände einer psychiatrischen Anstalt – die Jahre auf der Münchner Schauspielschule, wo seine groß gewachsene, kraftvolle Erscheinung mitunter Anstoß erregt: "Du musst jetzt mal raus aus diesem Sportlerkörper!" Herrliches tragikomisches Lachtheater bieten die Passagen, die in der Villa der Großeltern spielen, wo der Schauspielschüler wohnt und die Zeit stillsteht: Groteske Rituale regeln den Tagesablauf und die hoch dosierte Alkoholzufuhr bis ins Detail. Welche Beobachtungsvirtuosität!

Ganz anders in Ton und Temperament ist die Lesung von Christoph Ransmayr. Exotische Schauplätze, extreme Erfahrungen von Schmerz und Erleuchtung an den Rändern der Welt – davon handeln die Bücher dieses Autors, und das gilt auch für "Cox oder Der Lauf der Zeit" (Argon, 7 CDs, 23,95 Euro). Der Roman spielt im 18. Jahrhundert und erzählt von dem genialen Uhrmacher und Automatenbauer Alister Cox, der nach Peking reist und Zutritt zur Verbotenen Stadt erhält, um dort hochkomplexe Uhrenkunstwerke im Auftrag des Kaisers Qianlong zu bauen. Der chinesische Hof ist eine hochzeremonielle, abgezirkelte Welt, in der über allem schönen Schein die Angst lastet. Ransmayrs geschliffene Prosa hat selbst etwas von einem schnurrenden Uhrwerk. Die leicht österreichische Färbung seiner Lesung nimmt dem meis­terhaften Roman die in manchen Momenten ans Sterile grenzende Perfektion, gibt ihm Bodenhaftung.

Marilynne Robinson gehört in den Vereinigten Staaten zu den meistgerühmten Autorinnen ihrer Generation. Sie ist Barack Oba­mas Lieblingsschriftstellerin. Was liest der Noch-Präsident? Man staunt nicht schlecht: Bei "Gilead" (Argon, 8 CDs, 24,95 Euro) handelt es sich um keinen modernen Gesellschaftsroman, auch nicht um einen intrigenreichen Politthriller im Stil von "House Of Cards". Stattdessen: ein innerliches Buch der religiösen Suche, voller spiritueller Symbolik und atmosphärischer Beschreibungen. Der gute, alte Pastor John Ames erzählt vom Leben und Sterben, vom Glauben und Predigen; er erzählt von den Taten und Anfechtungen seines Großvaters im Bürgerkrieg. Handlung ist Nebensache, stattdessen lauscht man einem eigenwilligen, lebenserfahrenen, mitunter skurrilen Erzählstrom. Der Vorleser Otto Mellies ist die denkbar beste Besetzung für den knorrigen alten Glaubensbruder und dieses poetische Werk. Es erinnert hiesige Hörer an die immer wieder unterschätzten ­religiösen Traditionen des ländlichen Amerikas.

Zu den berühmtesten Autobiografien gehören die "Bekenntnisse" (DAV, 3 MP3-CDs, 10 Euro) des Jean-Jacques Rousseau. Es ist ein Skandalbuch, das erst posthum veröffentlicht wurde. Der pädagogische Idealist, der seine Kinder ins Findelhaus gab, liefert eine schonungslose Selbstbeichte, aber der Ton wandelt sich vom Demütigen ins Trotzige, und über weite Strecken werden die Konfes­sionen zur Anklageschrift gegen eine "böswillige" Umwelt. Die dreißigstündige Komplettlesung ermöglicht zugleich die Wiederbegegnung mit der markanten Stimme Joachim Höppners, der vor genau zehn Jahren jung verstarb und vielen noch als Synchron­stimme (unter anderem von Clint Eastwood) im Ohr sein dürfte.

Herausragend in der groß­artigen DVA-Klassiker-Edition ist außerdem Hans Paetschs ungekürzte Lesung des ­Dickens-Spätwerks "Große Erwartungen" (DAV, 2 MP3-CDs, 10 Euro). Kein Dickens-Roman ohne rührende Enthüllungen, wundersame Zufälle und unerhörte Schicksalswendungen. Pip, der arme Waisenjunge, zieht eines Tages das große Los: Ein unbekannter Wohltäter bestimmt ihn zum Erben eines stattlichen Vermögens. Es ist der Start für ein gutes Leben in London. Doch eines Tages steht der doch nicht so unbekannte Gönner vor der Tür: Es ist der unheimliche Exsträfling Magwich, an dem Pip einst eine gute Tat beging und der ihn, in Australien als Schafszüchter reich geworden, nie vergessen hat – eine unbequeme Wiederkehr, wie sich zeigt.

Franz Kafka las Dickens begeistert – und Sven Regener liest nun begeistert Kafka. Mit Drive und hartem, norddeutschem Zungenschlag geht er in den "Prozess" (Tacheles, 5 CDs, 24,99 Euro), als wollte er die Handlung ins Bremische verlegen. "Alle Beamten seien gereizt", heißt es im Roman einmal; kein Wunder angesichts der nächtelangen Aktenstudien in labyrinthischen Verfahren. Regeners Manier des leicht schlecht gelaunten Tons passt gut zu der chronischen Gereiztheit, die auch Josef K. erfasst. Diese temporeiche Kafka-Lesung ist eine Hommage und ein Hörgenuss, ein unverkrampfter Zugang zum Jahrhundertwerk.

Ein weiteres Vorbild Kafkas war Adalbert Stifter. Schwermut durchzieht dessen Werk; die Leichtigkeit des Seins lässt sich hier nicht studieren. Das gilt insbesondere für die Novelle "Abdias" (Parlando, 4 CDs, 19,99 Euro), die eine verhängnisvolle Kette von Schicksalsschlägen schildert und schon durch den nordafrikanischen Schauplatz beim Erscheinen Furore machte. Diese Erzählung ist ein Meisterwerk der Verfinsterung, und Christian Brückners zugleich kühl-sachliche und emphatische Lesart macht sie zum Hörerlebnis. Nicht Alltagsprosa, sondern wuchtige, epische Texte mit tragischen Gestalten wie der Hiobsfigur Abdias sind die besten Vorlagen für diesen Vorleser, der mit den Untertönen seiner Stimme Abgründe ausloten kann. Pathos und Parlando – das ist die ureigene Mischung, mit der er die klassische Literatur auf zeitgemäße Weise zum Klingen bringt.