Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik 2017

Neue Fenster zur Welt

22. Februar 2017
von Börsenblatt
Der Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik, den das Börsenblatt stiftet, geht in diesem Jahr an den Schweizer Journalisten Andreas Breitenstein. Ein Porträt.     

Der Morgen beginnt unruhiger, als Andreas Breitenstein gehofft hatte, das geplante Gespräch mit dem Börsenblatt verschiebt sich. Ungewöhnlich sind solche Planänderungen nicht: Hektik in der Redaktion ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel und lässt auch für Kontemplation wenig Raum. »Ich lese und schreibe abends und an den Wochenenden, im Büro erfolgt nur der Feinschliff«, sagt der 55-jährige Zürcher später, als endlich Zeit ist. Die Ruhe für genaue Lektüre, für das Nachdenken, Schreiben und Durcharbeiten seiner Texte findet der Redakteur der »Neuen Zürcher Zeitung« erst zuhause.

Breitenstein hat jede Menge Erfahrung: »Meine ersten Rezensionen verfasste ich vor 30 Jahren für die Zürichsee-Zeitung«, erzählt er. Damals studierte er Germanistik fürs Höhere Lehramt. Am Gymnasium zu unterrichten, lockte ihn dann aber doch nicht. Er verdiente sein Geld als Werbetexter, um weiter Kritiken schreiben zu können: für den »Tages-Anzeiger« und die »Neue Zürcher Zeitung«, die ihm 1992 eine Stelle im Feuilleton anbot. Vor einem Jahr wechselte er ins Ressort Meinung und Debatte, bleibt der Kultur aber verbunden.

Ob in der österreichischen Literatur, der Literatur Osteuropas, Russlands und Skandinaviens oder in Werken aus Lateinamerika und Asien – Breitenstein ist immer auf der Suche nach dem Herausragenden. Dabei geht sein Interesse über das einzelne Buch hinaus: »Literaturkritik bedeutet für mich, Schriftsteller zu begleiten«, so Breitenstein. Am meisten sagen ihm Werke zu, die ein neues Fenster zur Welt aufreißen. Früh schon erkannte er das literarische Gewicht etwa von David Albahari und Roberto Bolaño, Andrzej Stasiuk und Tomas Espedal, Sofi Oksanen oder Mircea Cartarescu.

Breitenstein ist ein nachdenklicher Gesprächspartner, der sorgfältig formuliert und zurückhaltend wirkt. Seine Leidenschaft für Literatur, für Sprache, für Ästhetik ist jedoch zu spüren. Sie entzündet sich vor allem an Anspruchsvollem: Romane dürfen anstrengend sein. Deutschsprachige Gegenwartsliteratur ist ihm tendenziell zu sehr der Konvention verpflichtet, dem Rückgriff auf Autobiografisches und dem Rückfall in vormoderne Erzählformen steht er skeptisch gegenüber. »Avancierter, aufregender finde ich Autoren, die ihre Kraft aus verschiedenen kulturellen Wurzeln beziehen«, sagt Breitenstein.

"Literaturkritik bedeutet für mich, Schriftsteller zu begleiten." Andreas Breitenstein    

Seine Kritiken schreibt er sachlich, klar, analytisch – und trotzdem mit Gefühl: »Im Idealfall ist Literatur eine existentielle Erfahrung, ein guter Text löst etwas in mir aus«. Was das ist – das versucht er in einen Kritiken für sich und den Leser herauszufinden. In einer Sprache, die Brücken vom Artistischen zum Alltäglichen schlägt, bemüht er sich, »die Eindrücke zu rationalisieren, ohne ihnen das Geheimnis zu nehmen«.

Sein leises Pathos und sein hoher Anspruch erscheinen unzeitgemäß in einer Welt, in der bildungsbürgerliche Kontexte erodieren und Literatur wie Kritik an Bedeutung verlieren. Aber Breitenstein hat Literatur immer schon als utopischen und melancholischen Gegenentwurf zur realen Lebenswelt begriffen. Sie ist für ihn ein Medium der Erweiterung von Ich und Welt, eine Erinnerung daran, was auch noch möglich wäre – im Guten wie im Schlechten.     

Die Preisverleihung an Andreas Breitenstein findet am 23. März auf der Leipziger Buchmesse statt (14 Uhr, Forum Die Unabhängigen, Halle 5, H 309). Die Laudatio hält der Schriftsteller Norbert Gstrein.