Rainer Moritz über die Leipziger Buchmesse 2017

Achtsam mit Luther küssen

30. März 2017
von Börsenblatt
Auch diesmal war Rainer Moritz wieder auf der Buchmesse in Leipzig. Und erneut blickt er auf intensive Tage zurück, deren seelische Verarbeitung ihm noch bevorsteht. Doch zunächst: das Erlebnisprotokoll.

Natürlich fahre ich in erster Linie nach Leipzig, um mich über die Entwicklungen des Buchmarkts zu informieren und mir erzählen zu lassen, welche grandiosen Bücher – von Uwe Timm, Daniel Kehlmann oder Ulla Hahn zum Beispiel – im Herbst erscheinen werden. Das ist interessant und bringt mich beruflich weiter, doch eigentlich bin ich in Leipzig, um das Leben in all seinen Facetten kennenzulernen. So war es auch diesmal. An meinen zwölf wichtigsten Eindrücken will ich Sie, liebe Leserin, lieber Leser, teilhaben lassen:

So erlebte ich, dass es
1. auch auf großen Messen nicht selbstverständlich ist, WLAN-Empfang zu haben, dass
2. Sicherheitskontrollen heutzutage sehr wichtig sind, wenngleich man sich in Leipzig damit begnügte, flüchtig in meine Aktentasche zu sehen, und sich für die Fahrtenmesser und Kleinkaliberwaffen, die ich am Leib trug, nicht die Bohne interessierte, dass
3. der Body-Mass-Index in Sachsen, wie mir eine Frankfurter Kritikerin beim Anblick der vielen für halbnackte Outfits nicht geschaffenen und dennoch halbnackt auftretenden Mangamädchen zuraunte, anders als in Hessen oder Niedersachsen interpretiert wird, dass
4. seit Menschengedenken Christian Anders ("Es fährt ein Zug nach nirgendwo") und sein Verlag Elke Straube nicht auf der Messe präsent waren und ich deshalb nicht in Anders' neuestem Werk, "Die Entstehung von Mensch und Universum in Frage und Antwort", blättern konnte, dass
5. Autorinnen dem Vorbild der stets prachtvoll frisierten Teresa Präauer nacheifernd, neuerdings zu sehr aparten Haartrachten neigen und eine davon, die Aufbau-Debütantin Lana Lux, sogar Ökotrophologie in Mönchengladbach studiert hat, dass
6. mir schon beim Frühstück eine befreundete Lektorin säuerlichen Gesichts mitteilte, dass ihr langjähriger Partner sie wegen eines "blonden Bumswuschels" verlassen habe, eine Vokabel, die meinen Wortschatz erweitert, dass
7. mir unter all den dickleibigen Luther-Publikationen Frank Flöthmanns leicht fassliches Daumenkino "Luther haut rein" fast am liebsten ist, dass ich
8. oft an die Schlusskapitel in Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" denken musste, wo der Erzähler schockiert ist, wie stark und oft unansehnlich die meisten Menschen altern, dass
9., wenn wir schon bei diesem Thema sind, eine Buchhändlerin aus Osterholz-Scharmbeck mir, als ich ihre ungebrochene Rüstigkeit pries, ein "Sie haben sich sehr verändert. Früher waren Sie viel charmanter" zuzischte, dass
10. mir eine Berliner Autorin – wieder beim Frühstück – anschaulich schilderte, wie ein Krähenvogel eingeschweißte Hühnerkeulen auf ihrem Balkon aufgehackt habe, was sie nicht davon abhielt, das gut abgewaschene Huhn ihrer Familie vorzusetzen, dass
11. Wangenküsse nichts von ihrer Beliebtheit eingebüßt haben, obwohl sich – was wiederum mit meinem Alter zu tun haben könnte – eine Münchner Verlagssprecherin damit begnügte, mir wie einem alten Messegaul auf die Schulter zu klopfen, und dass
12. ein Termin am Random-House-Stand mit dem herrlichen Austausch von Südtiroler Erlebnissen verstrich.

Das alles und viel mehr habe ich in Leipzig 2017 erlebt. Um das seelisch zu verarbeiten, werde ich auf den Spuren einer erfahrenen Münchner Verlagsfrau wandeln. Die nämlich hat, sich fortbildend, an einer "Achtsamkeitsmeditation" im Resilienztraining teilgenommen. Das wäre vielleicht etwas für mich, obwohl, wie die Münchnerin wusste, der Trend des Self-Forgiving noch ein neuerer Schrei sei. Das klingt nach Madame de Staëls "Verstehen heißt verzeihen" und scheint mir zu Buchmessen sehr gut zu passen.