Umfrage unter Lektoren (5)

Der erste Satz

12. Juni 2017
von Börsenblatt
Ein Versprechen, verführerisch, wie ein Enterhaken: Wie muss der erste Satz eines Romans sein? Wir hatten bei Lektoren nachgefragt − und haben Ihnen in einer kleinen Reihe bis zum Erscheinen des Börsenblatt Spezials Belletristik (14. Juni) täglich mehrere Antworten präsentiert. Zum Abschluss heute: Manfred Metzner, Jessica Beer, Bianca Dombrowa und Martina Schmidt.

Manfred Metzner, Verleger vom Verlag Das Wunderhorn:

Meist wird der erste Satz überbewertet. Im besten Fall erst sehr spät als genial erkannt und gewürdigt. Die meisten besten ersten Sätze werden nie gewürdigt, weil man sich mit ihnen nicht weiter beschäftigen möchte, da sie in Büchern stehen, die im Büchermeer untergehen und nie nennenswerte Auflagen erzielen, und damit für Wettbewerbe aller Art verloren sind. Wie könnte es auch sein, dass "erfolglose Autoren oder Autorinnen" schönste erste Sätze formulieren könnten?

Dabei könnte es doch so einfach sein: Wir alle wünschen uns den Beginn eines Romans oder einer Erzählung so, dass wir sofort in dessen/deren Sog geraten: Knapp, überraschend, poetisch, Neugier erzeugend. Natürlich arbeiten wir mit unseren Autorinnen und Autoren in diese Richtung. Aber die Leserinnen und Leser sollen doch letztendlich über das Buch entscheiden. Und sie stellen dann oft fest, dass es auf den ersten Satz gar nicht ankommt, weil sie von dem Text so hingerissen sind, dass sie am Ende der Lektüre den ersten Satz sowieso schon vergessen haben und sie Bücher nicht nach ersten Sätzen beurteilen, sondern nach ihrem Gesamteindruck. Keine Überraschung bot da der Wettbewerb "Der schönste erste Satz" von 2007, bei dem natürlich der Nobelpreisträger gewann.

Jessica Beer, Residenz Verlag, Programmleitung Literatur:

Der erste Satz muss so sein, dass er mich auf den zweiten (und auf alle weiteren) neugierig macht. 

Bianca Dombrowa, Programmleiterin Allgemeine Belletristik bei dtv:

Der erste Satz soll den Horizont der Geschichte aufreißen. Er soll den Leser in die Lebenswelt des Romans oder der Erzählung hineinsaugen. Er soll Zeit, Epoche, Atmosphäre, Realitätsebenen, Humor-, Dramatik- und Stilebenen aufzeigen. Vor allem anderen aber soll er neugierig machen auf das, was dann folgt. Das geht nur, wenn er mindestens eine Überraschung bietet. Das Aufwachen des Gregor Samsa ist nicht das schlechteste Beispiel.

Martina Schmidt, Programmleiterin Deuticke:

Es ist eigentlich ganz einfach: Der erste Satz muss so gut sein, dass man den zweiten unbedingt lesen will. Wer es selbst schon einmal versucht hat, weiß, dass das leider alles andere als einfach ist. 

Das 114 Seiten starke Spezial Belletristik erscheint heute, am 14. Juni mit einem Porträt des Diogenes-Verlegers Philipp Keel, einem Überblick über neue Gegenwartsliteratur aus der Schweiz, den neuesten Trends in der Covergestaltung und vielen anderen Themen.