Nachruf auf Peter Härtling

Der freundliche Skeptiker

10. Juli 2017
von Stefan Hauck
13 Schulen sind in Deutschland schon zu Lebzeiten nach ihm benannt worden, er behauptete sich in Gedichten und Romanen ebenso souverän wie im Kinderbuch, wurde mit Preisen ausgezeichnet und war auch im Verlagswesen aktiv: Mit dem heute verstorbenen Peter Härtling verlieren wir einen der großen Schriftsteller des Landes.

Härtling war ein stets freundlicher, in der Sache aber durchaus streitbarer Mensch, dem Gleichgültigkeit fremd war - wovon auch seine Essays zeugen. Gelegentlich mischte er sich in die Politik ein, ohne in Ideologien zu verfallen, machte in den 1970er Jahren mit bei Wahlkämpfen für die SPD, unterstützte die Friedensbewegung und engagierte sich in den 1980er Jahren als Mitglied der Synode der Evangelischen Kirche Deutschlands. Stets interessierte ihn auch die Meinung anderer, vor allem wenn sie pointiert in Worte gefasst war - unter anderem amtierte er Jahrzehnte als luzider Juror für den 1977 vom Börsenblatt gestifteten Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik.

Erinnern als Motivation seines Schreibens

Erinnern war das Grundthema seines Schreibens, was sowohl mit seiner persönlichen Geschichte wie mit der deutschen Geschichte zu tun hatte: "Ich habe nach dem Krieg als Halbwüchsiger erfahren, wie eine ganze Generation Erwachsener sich unendlich schnell wandelte, unglaublich verdrängt hat und es eine demokratisch eingefärbte Selbstgerechtigkeit gab, die mich aufbrachte. Das war der Auslöser für mein Schreiben", erklärte mir Härtling vor 13 Jahren in einem Gespräch in seinem Haus in Mörfelden-Waldorf. Als Schüler hatte er mit dieser Auseinandersetzung begonnen und war dabei geblieben: "Ich will Geschichte deutlich machen, aussprechen und im Erinnern erleiden. Man kommt nie mit der Geschichte aller klar", das wusste er – aber sie zu klären versuchen, hielt er für unabdingbar.

Härtling  gehörte zu den Romanciers, die die tief in der Vergangenheit schürfen und gründlichst recherchieren. Ob für "Hölderlin", "Hubert" oder "Schumanns Schatten", stets schlüpfte er bei der Recherche in die Rolle eines Mannes, der ein Puzzle legt und dem vertrackterweise immer wieder Teile fehlen: "Entweder sind sie verloren gegangen – oder ich finde sie nicht! Dieser aufkommende
Zorn, wenn etwas fehlt, löst aber auch Erzählwut aus: Wenn der Fakt schon fehlt – dann erzähle ich ihn!"

Diesem Finden und Erfinden spürte er auch bei seinen Poetik-Vorlesungen 1983/84 nach: Wer ihn da im großen Hörsaal der Frankfurter Universität erlebt hatte, der bekam spannende Einblicke in Härtlings Schreibwerkstatt. Im Mittelpunkt der Poetik-Vorlesungen stand eine der bekanntesten Fotografien von Robert Capa, die einen im Fallen und Sterben begriffenen Soldaten im spanischen Bürgerkrieg festhält; und Härtling begab sich auf die Suche nach zwei Menschen: "dem, der so kaltblütig war, auf den Auslöser seiner Kamera zu drücken, und dem, der, von einer Kugel getroffen, im Lauf innehält".

Vor elf Jahren wurden bei ihm ein Vorderwandinfarkt und ein Hirnschlag diagnostiziert, die Todesängste verarbeitete er auch literarisch.

Rattern auf der alten Schreibmaschine

1952 begann er seine Autoren-Laufbahn als Volontär in der Lokalredaktion der "Nürtinger Zeitung", im Jahr darauf erschien sein erstes Buch, die Gedichte "poeme und songs". Er arbeitete als Redakteur bei der "Heidenheimer Zeitung" und weiteren Zeitschriften, bevor er 1967 Cheflektor bei S. Fischer und im folgenden Jahr Sprecher der Geschäftsleitung wurde. Ende 1973 hörte er dort auf und arbeitete fortan als freier Schriftsteller, der mit Romanen und Erzählungen wie "Zwettl" (1973), "Nachgetragene Liebe" (1980), "Schumanns Schatten" (1996), "Tage mit Echo" (2013) oder "Verdi" (2015) reüssierte.

Auch wenn er die Verlagsseite bestens kannte, hielt er sich grundsätzlich zurück mit Ratschlägen an die Verlage bezüglich seiner Bücher und mahnte allenfalls dann, "wenn etwas wirklich schief geht, wenn ich beispielsweise merke, dass es mit ziemlicher Sicherheit zwischen zwei Auflagen in der Auslieferung oder im Vertrieb eine Lücke geben wird. Also da schreie ich schon schrill auf!" Seine Frau Mechthild Maier, mit der er seit 1959 verheiratet war und vier Kinder hatte, las als Erste seine Manuskripte, brachte die Schlussform in den Computer, denn Härtling bevorzugte das Schreiben auf einer alten mechanischen Schreibmaschine. Und er freute sich über Kritik von ihr, auch wenn sie seit Beginn des neuen Jahrtausends nicht mehr während des Lesens von einzelnen Kapiteln ihre Fragen und Anmerkungen einbrachte, sondern erst ganz am Schluss: "Sonst habe ich Angst, dass mich eine zu scharfe Kritik hemmt."

Die Erfahrungen seiner Frau, die lange als Psychologin am Jugendamt gearbeitet hatte, brachte er auch bei seinen Kinderbüchern ein. In seiner ersten Erzählung in diesem Genre, "Das war der Hirbel" (1973), stellte er ein Kind in den Mittelpunkt, das nicht fähig ist, sich auszudrücken; es wurde ebenso Klassenlektüre in der Grundschule wie "Ben liebt Anna" (1979) über die zarte Liebe von Ben zum Aussiedlermädchen Anna. Mit diesen Büchern, mit "Oma" (1975), "Theo haut ab" (1977) oder "Paul, das Hauskind" (2010) setzte er Maßstäbe im Kinderbuch. Dass ein Autor für Erwachsene wie für Kinder schreiben kann, ist selten: Für sein kinderliterarisches Gesamtwerk wurde er 2001 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet.

Ehrliches Staunen und Lachen

Härtling war Mitglied der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, der Akademie der Künste von Berlin und Brandenburg und der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, lehrte und las, verlor dabei aber nie die "Bodenhaftung" und war gern gesehener Gast in Buchhandlungen. Er lobte die Buchläden "in den kleineren Städten, die fabelhaft funktionieren, die Kulturarbeit machen, die Neugier verbreiten", kritisierte "Buchkaufhäuser, in denen die Kunden durch Stapel überredet oder mit Bestsellerlisten überfallen werden. Sie brauchen aktive, gestandene Buchhändler, die darauf aus sind, Kunden zu beraten. Sonst ist es egal, ob dort Socken, Unterhosen oder Bücher verkauft werden."

Seine Familie bezeichnete er als sein "Basislager", freute sich über die Kinder und Enkelkinder an Wochenenden, "da wird geredet, gestritten, gequatscht: Es ist wunderbar!" Zu Härtling gehörte auch sein wundervolles Lachen, das aus tiefster Seele kam, ein Sich-Freuen des Skeptikers über Kleinigkeiten und das Wunder des Lebens an sich: Fast unmerklich machte er in Gesprächen immer wieder bewusst, was es alles Staunenswertes gibt - ein Genießer. Seine optimistischen Hinweise und sein freundliches Lachen werden nun fehlen. Bleiben werden seine großartigen Romane und Erzählungen.