Interview mit Cornelsen-Chef Mark van Mierle

Abschied von der Buch-Metapher

28. September 2017
von Börsenblatt
Mit Mark van Mierle steht ein Mann an der Spitze von Cornelsen, für den die digitale Transformation höchste Priorität hat. Ein Gespräch über Strategie, Innovationsmanagement und die multimediale Lernwelt der kommenden Jahre.

Welches Unternehmen haben Sie vorgefunden, als Sie vor über eineinhalb Jahren CEO der Cornelsen Gruppe wurden?
Ich habe einen Verlag kennengelernt, der über eine hohe didaktische Kompetenz und ein breites Netzwerk verfügt, ein Unternehmen, das bereits vielfältige Erfahrungen mit digitalen Medien gesammelt hat und voller Chancen steckt.

Die digitale Transformation von Cornelsen hat für Sie höchste Priorität. Sie haben das Start-up mBooks integriert, um den Prozess voranzutreiben. Wo setzen Sie an?
Cornelsen versteht sich als Organisation, die es anderen ermöglichen will, erfolgreich zu lernen und zu lehren. Das ist das Fundament unseres Selbstverständnisses. Um den Entwicklungen des Marktes und der Bildungspolitik gerecht zu werden, ändern wir derzeit intern unglaublich viel. Über allem stehen dabei die Fragen: Wie ändert sich unsere Aufgabe? Was können wir einbringen? Wir haben viel vor.

Wo fängt man mit der Transformation an? Wenn man an einem Punkt beginnt, hat dies Auswirkungen auf andere, womöglich weit entfernte Glieder der Prozesskette …
Wir orientieren uns am Kunden. Ihn wollen wir bestmöglich unterstützen. Mit diesem Ziel vor Augen gehen wir unsere Aufgaben ganzheitlich an und entwickeln nicht nur die Arbeit in den Redaktionen und das Produktmanagement weiter, sondern zum Beispiel auch die Geschäftsmodelle und ­Serviceangebote.

Die Entwicklung neuer Produkte und digitaler Lern­umgebungen setzt ein umfassendes Innovations­management voraus. Wie organisieren Sie das?
Wir beschäftigen uns intensiv damit, wie wir gemeinsam mit Kunden zu neuen Lösungen kommen. Ein Beispiel sind abteilungsübergreifende Teams, die gemeinsam an einer Kundenfrage arbeiten. Ein anderes Veranstaltungen, wie die Cornelsen EdTech Innovation Days, zu denen wir jüngst eingeladen haben. Hier sind gemischte Teams mit Experten aus Didaktik, Technologie und Praxis angetreten, um Ideen für die Bildung der Zukunft zu entwickeln. Wir arbeiten dabei unter anderem mit der Design-Thinking-Methode, die sich von vornherein an den Bedürfnissen der Nutzer und möglichen Nutzungsszenarien orientiert.

Woran arbeiten die Teams genau?
An neuen Bildungsangeboten, die die Potenziale digitaler Technologien nutzen, um das Lernen zu verbessern und guten Unterricht zu unterstützen. Ein aktuelles Beispiel ist die App "Clevery", mit der sich Abiturienten auf ihre Prüfungen vorbereiten können. Sie erhalten dabei Aufgaben, die immer ihrem jeweiligen Leistungsstand entsprechen.

Der Umbau der Prozesse und der Ausbau der digitalen Produktpalette erfordern nicht nur Investitionen, sondern auch neue Kompetenzen. Stellen Sie gerade in großer Zahl neue Mitarbeiter ein?
Stimmt, wir stellen neue Mitarbeiter ein. Wir brauchen heute zusätzliche Kompetenzen. So beschäftigen wir auch Produkt­manager, Datenanalysten, User-Experience-Designer oder Bildungs-Consultants. Mit dem mBook-Team konnten wir Kolleginnen und Kollegen gewinnen, die ihre Erfahrung mit "digital first"-Lösungen einbringen. Und gleichzeitig schulen wir unsere Mitarbeiter, zum Beispiel darin, wie in einem kollaborativen Prozess neue Produkte entwickelt werden.

Geht mit diesen Veränderungen auch ein Kulturwandel im Unternehmen einher?
Langjährige und neue Mitarbeiter bringen unterschiedliche Erfahrungen mit und gestalten zusammen die Kultur unseres Hauses. Auf ihrem Weg zu einer gemeinsamen Sprache können sie auf definierte Werte und einen eindeutigen Unternehmenszweck bauen. Die Beschäftigung mit neuen Lehr- und Lernszenarien setzt ganz viel Energie im Unternehmen frei.

Das Lernen wird multimedial und die Bedeutung gedruckter Lernmedien nimmt ab. Hat das analoge Medium künftig überhaupt noch einen Platz im Klassenzimmer?
Ja. Sein Einsatz richtet sich ganz nach dem Zweck, den es erfüllen soll. Im Vordergrund steht nicht die Frage nach dem Medium, sondern die nach der Didaktik. Mit welchem Medium oder Medienmix kann ich ein Lernziel am besten erreichen? Das ist der Kern unserer Arbeit und zugleich der Schlüssel zur Lösung. Wir bieten Lehrkräften und Schülern die Möglichkeit, verschiedenste Lösungen einzusetzen: Das Buch hat seinen Platz ebenso wie ein Video, interaktive Aufgaben oder eine Lösung, die all dies miteinander verbindet. Dazu kommen Virtual-Reality-Angebote oder – wieder ein anderes Beispiel – Platinen wie Calliope mini. Mit ihr können Schüler im Unterricht programmieren, einen Roboter bauen, Nachrichten übertragen oder eine Lichtschranke steuern. Als Partner der Calliope gGmbH haben wir dafür didaktische Szenarien entwickelt und eine Lehrerhandreichung sowie ein Arbeitsheft für die Schüler herausgegeben.

Entwickeln Sie auch Onlinekurse für den Unterricht, die sich komplett von der vertrauten Schulbuchoptik entfernen?
Genau dies machen wir zurzeit. Dabei beziehen wir auch die Erfahrungen des mBook-Teams mit ein. Bisher war ein E-Book meist ein layout-identisches PDF, das mit einigen Funktionen und Zusatzinhalten angereichert wurde. Jetzt lösen wir uns von der Buch-Metapher. Was wir vorbereiten, sind browser-basierte Anwendungen, die interaktiv sind, und die Videos, Audio-Files oder Übungen integrieren. Hier ändert sich nicht nur die Darstellungsform, vor allem gibt es weit mehr Nutzungsmöglichkeiten.

Kommen Sie damit den Nutzungsgewohnheiten der Schüler entgegen?
Ja, wir stellen im Grunde den Anschluss zu dem Mediengebrauch her, den Schüler aus ihrem alltäglichen Umfeld kennen. Wenn sie es gewohnt sind, mit dem Smartphone zu kommunizieren und zu recherchieren, warum soll das Smartphone dann nicht für Unterrichtszwecke genutzt werden? Voraussetzung ist allerdings, dass es didaktisch sinnvoll eingebunden ist.

Unter dem Dach der Cornelsen Schulverlage sind mehrere Marken aktiv, neben Cornelsen unter anderen Oldenbourg, Volk und Wissen sowie der Verlag an der Ruhr. Soll sich daran etwas ändern?
Wir haben sehr starke Marken und fahren gut damit, deshalb sehe ich da keinen Handlungsbedarf. Oberste Priorität hat die digitale Transformation des gesamten Unternehmens mit dem Ziel, unsere Kunden erfolgreich zu machen.

Was geschieht mit dem Bibliographischen Institut? Passt das noch in Ihre Strategie?
Die Marke Duden steht für Sprachkompetenz und spielt eine große Rolle im gesamten Bildungsbereich – und damit auch in der Schule. Dieses Potenzial wollen wir künftig noch stärker nutzen.

Glauben Sie, dass das deutsche Bildungssystem in den kommenden Jahren den "digital turn" schafft?
Seitdem sich die Länder im vergangenen Jahr auf eine gemeinsame Strategie zur Bildung in einer digitalen Welt verständigt haben und auch der Bund diese Entwicklung unterstützt, bin ich zuversichtlich, dass jetzt Bewegung in die Sache kommt – und zwar nicht nur bei der Infrastruktur, sondern auch bei den Rahmenbedingungen. Entscheidend ist nun eine schnelle Umsetzung der Strategie. Wir bringen uns als Partner gern ein – ob mit erfolgreichen Produkten, Prototypen oder Weiterbildungsangeboten für Lehrer.