Rainer Moritz über Sexismuskritik

Gesinnungspolizeiruf 110

9. November 2017
von Börsenblatt
Es ist notwendig, Sprache zu korrigieren, wo sie übergriffig, schlüpfrig und anzüglich wird. Allerdings sollte das Kind nicht mit dem Bade ausgeschüttet werden. Rainer Moritz verteidigt Sexismus – in der Literatur.

Alle sind gegen Sexismus, klar. Keiner, der aufsteht und einem Frauenstammtisch ein lockeres "Ja, ich bin Sexist, und das ist gut so!" zuruft. Zu Recht herrscht überall Wut darüber, wie die Dominique Strauss-Kahns, Harvey Weinsteins und Bill Cosbys ihre Macht ausnutzten und Frauen zu Sexualobjekten machten. Unter "#Metoo" melden sich so tagtäglich Frauen zu Wort und berichten von Grabschereien, von Beleidigung, Anmache und Vergewaltigung. Und wie immer, wenn in unserer Gesellschaft Verfehlungen ans Tageslicht kommen, ist kein Halten mehr, melden sich sofort die Gesinnungspolizistinnen und Gesinnungspolizisten zu Wort und wollen normieren, was nicht zu normieren ist.

Gewiss, mit guten Gründen verzichten wir darauf, im Supermarkt nach Negerküssen und Mohrenköpfen zu verlangen, und auch das zu Konrad Adenauers Zeiten beliebte Zigeunerschnitzel hat an Akzeptanz verloren. Zur Not essen wir Balkanschnitzel. Wo Sprache frauenverachtend eingesetzt wird, wo sich ein historisch zu erklärender, unreflektierter Rassismus behauptet, da soll korrigiert werden – sofern das Kind nicht mit dem Bade ausgeschüttet wird. In Matthias Claudius' "Abendlied" muss meines Erachtens in den Schlussversen "Und lass uns ruhig schlafen! / Und unsern kranken Nachbar auch!" nicht zwingend eine "Nachbarin" eingebaut werden, um den sprachlich Hyperkorrekten gefällig zu sein.

Um es grundsätzlich zu sagen: Es ist richtig, übergriffigen Männern zu zeigen, welche Anzüglichkeiten, welche Schlüpfrigkeiten widerwärtig und würdeverletzend sind. Doch es ist gefährlich, wenn die aktuelle Diskussion Altherrenwitze oder weinselige Sätze à la Rainer Brüderles "Sie können ein Dirndl auch ausfüllen" vermengt mit körperlichen Einschüchterungen und Vergewaltigungen. Sexismus zu brandmarken, das ist gut und richtig, das Ansinnen verkehrt sich jedoch ins Gegenteil, wenn kriminelle Delikte und sabbernde Anmachen in einen Topf geworfen werden.

Und nicht zuletzt: Unsere Gesellschaft ist ungerecht, und wir können in allen öffentlichen Debatten versuchen, dem entgegenzuwirken. Doch es ist verheerend, wenn die Gesinnungspolizei dort eingreift, wo Gesellschaft gespiegelt, wo sie zur Literatur wird. Die Forderung, ein harmloses Gedicht des Poeten Eugen Gomringer von einer Berliner Hochschulwand zu entfernen, weil es in einer "patriarchalen Kunsttradition" stehe, ist absurd. Dass in den letzten Jahren die Bibel gendergerecht (und meist unschön) umgeschrieben wurde, dass man aus Kinderbüchern von Astrid Lindgren und Otfried Preußler heute als unangemessen empfundene Vokabeln eliminierte, daran hat man sich, viel zu schnell, gewöhnt – als sei ernsthafte Literatur je ein Ausbund des Korrekten und Unangreifbaren gewesen. Was ist eigentlich mit den Antisemitismen in den Wilhelm-Raabe- oder Fontane-Ausgaben?

Warten wir noch ein Weilchen, und es wird darum gehen, sexistische Passagen in der Literatur umzuschreiben, da sich Leserinnen und Leser bei der Lektüre verletzt fühlen könnten. Der lebensmüde Held in Christoph Höhtkers Roman "Das Jahr der Frauen", der skandalöserweise auf der Longlist des Deutschen Buchpreises stand, verteilt "Aussehensnoten", beschreibt Frauen als "Material" oder "Mischwesen aus Mensch und Haflinger". Unhaltbar, oder? Auch John Banvilles unsympathische Figur Oliver Orme (in "Die blaue Gitarre") erlaubt sich Dreistigkeiten, die als klar sexistisch zu bezeichnen wären. Raus damit also, oder? Genau, und am Ende haben wir eine Literatur, die so aufregend ist wie eine Folge "Berti Vogts liest aus dem Stuttgarter Telefonbuch".