Interview mit Sujet-Verleger Madjid Mohit

"Luftwurzelautoren sind in mehreren Sprachen unterwegs"

2. Februar 2018
von Börsenblatt
Vor 27 Jahren ist Madjid Mohit aus dem Iran nach Deutschland geflohen, kurze Zeit später hat er in Bremen den Sujet-Verlag gegründet, heute eine wichtige Heimat für Autoren verschiedenster Ursprungssprachen. Im Gespräch erläutert er, wie geflüchtete Autoren eine neue Literatur entwickeln.

Seit 1996 verlegen Sie Exilliteratur, mögen allerdings den Begriff nicht so sehr. Warum sprechen Sie lieber von "Luftwurzelliteratur"?

In den neunziger Jahren wurde der Sujet Verlag mit dem Konzept ‚Exilliteratur‘ gegründet. Aber die Erscheinungsformen dieser Art Literatur sind natürlich nicht identisch mit dem damals geläufigen Verständnis von Exilliteratur, nämlich der Literatur von während der Naziherrschaft aus Deutschland vertriebenen Autoren und eben der Nachkriegsliteratur. "Luftwurzelliteratur" ist nach meiner Meinung der Nachfolger der ursprünglichen Exilliteratur. Die besondere Art Literatur von Autoren, die mit zwei oder mehr Sprachen und Kulturen leben und unterwegs sind. Also kurz gefasst: die positive Seite des Exils! Diese Autoren sind mit ihrer neuen Identität zufrieden und sehen sie als eine Herausforderung und einen Gewinn an Kreativität und Produktivität für ihre Werke.

Wie schwer ist es nach Ihrer Erfahrung für geflüchtete Schriftsteller, wieder Fuß zu fassen, ins Schreiben zurückzufinden?

Es ist viel schwerer, als man sich je vorstellen kann. Wissen Sie, es ist nicht allein die Sprache. Sondern der Autor muss sich auch entwickeln mit der neuen Sprache, der Kultur und der Situation. Die geschriebene Muttersprache ist weit weg von der Sprache, in der man im Exil als zweite Sprache schreiben wird. Es gibt einige Autoren, die nach einiger Zeit nicht mehr schreiben, weil sie keinen Erfolg und kein berufliches Fortkommen, keine auf ihren Werken basierende Karriere erkennen können und ihr Schreiben daher als nutzlos ansehen. Es ist ein Entwicklungsprozess, der in den Autoren passieren muss, und das braucht seine Zeit. Das Ergebnis, wenn man dabei bleibt, wird eine Art Literatur und Sprache sein, die einen eigenen Stil und eine eigene Weltanschauung für sich hat, die weder mit der Herkunftsliteratur noch mit der Ziellandliteratur identisch ist. Und das ist genau der Punkt. Es gibt in Deutschland mittlerweile beispielhafte Autoren wie Rafik Schami und Abbas Khider und viele andere.

 

Wie wichtig ist es für uns, diese Texte kennenzulernen?

Für Zukunftsfrieden und mehr Verständnis der Menschen untereinander auf dieser Welt ist es sehr wichtig, eine mehr- oder sogar vielseitige Literatur zu lesen, die nicht nur einer einzigen Kultur entstammt, sondern mit mehreren Kulturen vertraut ist, um aus dieser engen Sichtweise herauszukommen und sich zu befreien.

 

Tatsächlich hat man in den vergangenen Jahren eine ungemeine Bereicherung der deutschsprachigen Literatur durch die so genannte Migrantenliteratur erfahren. Glauben Sie, dass es genug Aufmerksamkeit für die jetzt neu hinzukommenden Stimmen gibt – und dass sie auch genügend Plattformen (etwa in Verlagen) haben, um gehört zu werden?

Es herrscht momentan Aufmerksamkeit in bestimmten Richtungen, zum Beispiel für syrische Literatur, und dies gab es periodisch immer wieder in der deutschen Geschichte, mindestens seit den achtziger und neunziger Jahren. Es sind hier und da auch Gelder geflossen, aber dann brach das ab, es gab es keine Kontinuität mehr. Im Moment bauen wir auf der Vorarbeit und der Anerkennung durch die bekannten Autoren auf, die in dieser Hinsicht viel geleistet haben. Die Aufmerksamkeit sollte aber nicht wieder einschlafen; die Verlage sollten mehr daran arbeiten, und die Autoren sollten durch professionelle Institutionen, Verlage und Personen gefördert werden – nicht nur auf politischer Ebene mit Blick auf die nächste anstehende Wahl.

 

Bekommen Sie als Verleger in den vergangenen Jahren mehr Manuskripte? Nach welchen Kriterien wählen Sie dann aus?

Ich merke es sehr deutlich, dass uns spürbar mehr Vertrauen von diesen Autoren entgegenbracht wird. Wir bekommen viel öfter Manuskripte als früher. Interessanterweise erhalten wir sogar von deutschen Autoren Manuskripte, die gleichfalls sehr gut unter dem Begriff "Luftwurzelliteratur" aufgehoben sind, und das zeigt, wie wichtig und aktuell das Thema ist. Nach einer gewissen Erfahrung lässt sich am Manuskript einigermaßen abschätzen, ob der Autor eine literarische Zukunft hat und ernsthaft daran arbeitet.

 

Gibt es etwas, was – bei aller Unterschiedlichkeit verschiedener literarischer Ausdrucksformen – Luftwurzelautoren verbindet?

Der Mensch und sein Schicksaal und seine Sorgen und Bedürfnisse! Ich sage immer, Literatur hat einen besseren Zugang zu Menschen als die Politik. Um einen gemeinsamen Weg zu finden, auf dieser Welt friedlich miteinander zu leben, brauchen wir uns nur mehr und mehr kennenzulernen. Und Literatur – und besonders diese überschreitende Art der Literatur – kann und wird sich dieser Aufgabe in detailliertester und schönster Form annehmen, ohne dabei je zu versagen.