Porträt des Alfred-Kerr-Preistägers Michael Braun

Schmuggler der Lyrik

1. März 2018
von Holger Heimann
Michael Braun erhält auf der Leipziger Buchmesse den Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik. Porträt eines engagierten Poesievermittlers.

Bereits als Student der Germanistik und der Philosophie zog es Michael Braun eher zur Lyrik als zur Prosa. "Ich hatte schon früh das starke Grundgefühl, dass in Gedichten die Fragen unserer Existenz verhandelt werden", sagt er. "Es hat mich fasziniert und nicht mehr losgelassen, dass im Gedicht auf engstem Raum diese Fragen nach den ersten und letzten Dingen gespeichert werden." In seiner Promotion will er eine Poetik des offenen Gedichts entwickeln und untersuchen, welche neuen Formen die alten abgelöst haben. Doch das Projekt stellt sich als unabschließbar heraus. Denn rasch begreift der Promovend: "Wenn man die Gegenwartsdichtung verfolgt, hat das den Nachteil, dass man dauernd Nachträge liefern muss, um auf der Höhe der Zeitgenossenschaft zu bleiben."

Als Braun die akademische Karriere aufgibt, kommt das dennoch keiner Kapitulation gleich. Er findet nur einen anderen Weg. Auf ihm ist der 60-Jährige bis heute unterwegs: "Wenn man kokett sein will, könnte man sagen, dass die 35 Jahre seither Fußnoten zur Poetik des offenen Gedichts liefern." Diese Fußnoten – das sind Besprechungen für die "NZZ" und den "Tagesspiegel", für den Deutschlandfunk, den Saarländischen Rundfunk und den Südwestrundfunk. Und es sind Bücher – ­Essays und Anthologien.

Natürlich hat Braun in jungen Jahren mit eigenen Gedichten experimentiert, das Bemühen aber rasch wieder aufgegeben: "Mir sind so viele Gedichte begegnet, wo ich sagen musste, da werde ich nie heranreichen." Sein Metier wird es stattdessen, sich der Lyrik kommentierend zu nähern. Vom russischen Dichter Ossip Mandelstam stammt die schöne Bemerkung: "Die Dichtung unterscheidet sich gerade dadurch vom automatischen Sprechen, dass sie uns mitten im Wort weckt und aufrüttelt." Für Braun ist das ein Schlüsselsatz. "Wenn ein Gedicht eine uns vertraute Welt reproduziert, langweilt es mich. Es muss mich erst einmal befremden, mich provozieren", sagt er.

Michael Braun ist sich zwar sicher, dass heute dank des Internets mehr Gedichte veröffentlicht werden als vor Jahrzehnten. Auch Festivals können kaum über mangelndes Interesse klagen. Doch in den Feuilletons und in den großen Verlagen ist für Lyrik immer weniger Platz. In einer kleinen Nische sieht Michael Braun die Dichtung trotzdem nicht. Lieber spricht er von der Übersichtlichkeit der Szene. 250 bis 300 ernstzunehmende Lyriker zählt er. Man kennt sich, begegnet sich häufig. Braun gehört seit Jahren zu der kleinen Gesellschaft der Dichterinnen und Dichter – als Kritiker, Moderator, Förderer, Vermittler. Es gibt kaum einen, der mit so viel Ausdauer und Engagement versucht, Gedichte in die Öffentlichkeit zu schmuggeln.

Als einer der wenigen Lyrikspezialisten unter den Kritikern fällt Braun naturgemäß auf. Von Nachteil ist das sicher nicht. Sich ganz auf die Dichtung kaprizieren, das will jedoch auch einer wie Michael Braun nicht. Begeistert erzählt er von Esther Kinskys und Georg Kleins neuen Romanen, die er gerade gelesen hat. Die Lektüre ist ein notwendiger Ausgleich für ihn, denn die Prosa lasse mehr Atem, mehr Raum, mehr Luft. "Das erträgt ja niemand, sich von morgens bis nachts nur mit Gedichten zu beschäftigen. Das kann man nicht anraten", sagt der Lyrikenthusiast. "Wenn man immer so kleine Kapseln voller Existenzfragen hat, dann droht einen das auch zu überwältigen."

Preisverleihung:

Donnerstag, 15. März, 14 Uhr,
Forum Die Unabhängigen,
Halle 5, H 309

Über den Preis

Im Jahr 1977 hat das Branchenmagazin Börsenblatt den Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik gestiftet, der heute mit 5.000 Euro dotiert ist. Bis 1995 wurde jedes Jahr ein besonders bemerkenswerter Literaturteil einer deutschsprachigen Zeitung oder Zeitschrift, eines deutschsprachigen Hörfunk- oder Fernsehprogramms ausgezeichnet.

Seit 1996 würdigt die Jury jeweils die Arbeit einer Einzelperson. Der Preis wird nicht für eine Einzelkritik vergeben, maßgeblich ist vielmehr die Kontinuität des literaturkritischen Schaffens. Die Auszeichnung erinnert an den Schriftsteller, Theaterkritiker und Publizisten Alfred Kerr (1867 – 1948), der in der Kritik eine eigene Kunstform sah.