Leipziger Buchmesse: Eröffnung im Gewandhaus

"Buchmessen sind keine Filterblasen"

15. März 2018
von Börsenblatt
Heinrich Riethmüller, Vorsteher des Börsenvereins, geht in seiner Rede zur Eröffnung der Leipziger Buchmesse auf die besondere Rolle des Buches und der Buchbranche in der Gesellschaft ein. Die Rede im Wortlaut. 

(Das gesprochene Wort gilt)

„Der Buchmarkt hat sich verändert. Wir wissen, dass wir vor großen Aufgaben stehen. Wir merken es in unserem eigenen Geschäft: Bücher verkaufen ist schwieriger geworden. Zwar ist der Umsatz der Buchbranche über die letzten zehn Jahre hinweg stabil geblieben, was angesichts des Medienwandels eine herausragende Leistung von uns allen ist. Aber die Menschen kaufen weniger Bücher. Und das ist ein Umstand, der uns beunruhigen muss. Von 2013 bis 2017 haben wir auf dem Publikumsmarkt knapp 6,5 Millionen Buchkäufer verloren. Immer noch etwa 30 Millionen Menschen sind unsere Kunden – aber 18 Prozent sind uns innerhalb von fünf Jahren verloren gegangen. Gemeinsam mit Verlagen, Buchhandlungen und Marktforschern untersuchen wir derzeit die Motive der Buchabwanderer. Warum greifen die Menschen heute weniger zum Buch, was machen sie stattdessen? Wie können wir sie für Bücher zurückgewinnen?

Erste Ergebnisse von Befragungen zeigen zweierlei. Zum einen bestätigen die Befragten, was wir alle wohl vermuten. Fast unisono berichten sie von einer großen Zeitknappheit und Überforderung im Alltag, nicht zuletzt durch Social Media: Menschen stehen unter einem hohen Druck, ständig reagieren und dranbleiben zu müssen. Das Zeitkorsett wird enger, die Aufmerksamkeitsspanne sinkt und so greifen die Menschen seltener zum Buch. Die befragten Menschen empfinden diese Situation mit großer Mehrheit als Belastung. Die zweite Beobachtung ist genauso interessant: Durchweg assoziieren die Befragten sehr positive Gefühle und Erfahrungen mit dem Buchlesen. Das Lesen wird als Ruhepol in der Hektik des Alltags, als Zeit für sich und als Balsam für die Seele empfunden. Die Sehnsucht bei den Menschen nach diesen Oasen der Entschleunigung und Ruhe ist hoch. Und darin steckt für uns alle hier im Saal eine große Chance. Wir haben ein Produkt, das einen Ausgleich zur Hektik des Alltags verspricht. Bücher bieten die Möglichkeit, für eine gewisse Zeit aus der Multi-Tasking-Gesellschaft herauszutreten, Lesen ist ein Gegenpol zur ständigen Verfüg- und Erreichbarkeit. Wenn es uns gelingt, dies zu vermitteln, dann bin ich überzeugt, dass wir auch wieder Käufer zurückgewinnen können.

Bücher sind also weiterhin gefragt, sie sind die Antwort auf ein menschliches Bedürfnis. Und sie haben nichts an Relevanz verloren. Denken Sie nur an „Feuer und Zorn“, das Buch über Donald Trumps Weg ins Weiße Haus. Tausende Tweets konnten nicht die Diskussion hervorrufen, die dieses Buch ausgelöst hat. Was in Form eines Buches veröffentlicht wird, in einem abgeschlossenen, linearen Text, von renommierten Autoren recherchiert und von einem Verlag kuratiert, hat immer noch Autorität. Das Buch steht für Verlässlichkeit und Nachhaltigkeit. Es hat die Kraft, gesellschaftliche Debatten anzustoßen und mitzugestalten. Unser Anspruch als Verleger, Buchhändler und Autoren ist es immer noch, einen wesentlichen Beitrag zum Gelingen einer freien, demokratischen Gesellschaft zu leisten. Das zeigen Bücher wie das von Michael Wolff, und das zeigt auch ein Blick darauf, wie sich gesellschaftliche Herausforderungen und politische Umbrüche auch – und gerade – auf Buchmessen ausdrücken. Schon immer war der Buchmarkt, war unsere Branche ein Seismograph für gesellschaftliche Stimmungen.

Wir alle haben gerade auf dem Weg ins Gewandhaus die Kundgebung erlebt. Menschen, die ihre Meinungen, Ideen und Werte vertreten – auch wenn sie unterschiedlich oder gegensätzlich sein können. Ich bin froh, in einem Land zu leben, in dem das möglich ist. In dem wir für unsere Werte und Überzeugungen auf die Straße gehen können, in dem wir unsere Meinung äußern, publizieren und verbreiten können, ohne Angst haben zu müssen, dafür von staatlicher Seite verfolgt oder gar ins Gefängnis gesteckt zu werden. Das ist gelebte Meinungsfreiheit und Demokratie. Nicht in allen Ländern ist das möglich. Denken wir an den Buchhändler und Verleger Gui Minhai, der seit Jahren vom chinesischen Regime drangsaliert wird, nur weil er Bücher verlegt und verkauft hat, die den Machthabern ein Dorn Auge sind. Oder hier in Europa: Vor nicht einmal drei Wochen wurden der slowakische Journalist Ján Kuciak und seine Verlobte tot aufgefunden. Er recherchierte über Verstrickungen zwischen der italienischen Mafia und der slowakischen Regierung. Unsere Gedanken sind auch mit den über 150 Medien- und Kulturschaffenden, die noch immer in der Türkei im Gefängnis sitzen. Wir freuen uns riesig, dass Deniz Yücel endlich frei ist. Aber vergessen wir nicht: Er ist immer noch angeklagt, die Staatanwälte fordern 18 Jahre Haft, nur dafür, dass er als Journalist seine Arbeit getan hat. Und am selben Tag, als er freigelassen wurde, wurden sechs renommierte Journalisten und Autoren in der Türkei zu lebenslanger Haft verurteilt. Solche Zustände haben wir in Deutschland zum Glück nicht. Aber auch in unserem Land ist Demokratie herausfordernder geworden. Das Debattieren, die inhaltliche Auseinandersetzung scheinen uns zunehmend schwer zu fallen. Positionen verhärten sich schnell zu Fronten. Der Hasskommentar ersetzt das Nachfragen und das Argument. Der Meinungsbildungsprozess ist schwieriger geworden.

Das haben wir unter anderem auf der letzten Frankfurter Buchmesse erlebt, wo die Präsenz von Verlagen aus dem rechten Spektrum zu heftigen Auseinandersetzungen geführt hat. Gegen einen großen Widerstand aus der Zivilgesellschaft und von Teilen der Politik hatten wir die Präsenz dieser Verlage ausdrücklich verteidigt. Leider hat sich an vielen Stellen gezeigt, dass eine Verständigung kaum möglich, teilweise auch nicht gewollt war, die Situation drohte zu eskalieren. Vielleicht haben wir auch selbst nicht alles richtig gemacht. Aber heißt das, dass es deswegen falsch war, diese Verlage zuzulassen? Nein. Buchmessen sind keine Filterblasen, sondern spiegeln das wider, was in der Gesellschaft vor sich geht. Und dazu zählen, spätestens seit dem Einzug der AfD in den Bundestag im September, mit zunehmendem Selbstbewusstsein auch rechte Positionen.

Für uns steht daher nach wie vor fest, dass alle Verlage oder Titel, die nicht gegen das Gesetz verstoßen, auf Buchmessen präsent sein können. Die Leipziger Buchmesse handhabt das genauso, wie auch fast alle Buchmessen weltweit. Wenn wir Meinungsfreiheit ernst nehmen, müssen wir sie auch jenen zugestehen, deren Wertvorstellungen und Meinungen wir nicht teilen, ja, deren Ansichten wir sogar für gefährlich halten.

Meinungsfreiheit bedeutet allerdings nicht die Absenz von Gegenpositionen. Ein lebendiger Meinungsbildungsprozess, der geprägt ist von der inhaltlichen Auseinandersetzung, dem Austausch, der Diskussion und der Debatte, ist essentiell für eine Demokratie. Die gesamte Zivilgesellschaft ist angesichts der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen aufgefordert, sich wieder mehr mit politischen Themen inhaltlich auseinanderzusetzen und auch extreme Positionen nicht wegzuschweigen.

Uns wurde vorgeworfen, wir hätten auf der Frankfurter Buchmesse als Verband nicht Position für Respekt, Toleranz und Vielfalt beziehen dürfen. Ich kann Ihnen erklären, warum wir es getan haben und wieder tun werden. Das Buch ist kein gewöhnliches Produkt, es ist ein Kulturgut und immer auch ein Beitrag zum Diskurs. Deshalb hat unsere Branche einen besonderen Anspruch: nämlich mit ihren Produkten Demokratie und Kultur in der Gesellschaft mitzugestalten. Als Interessenvertreter dieser Branche verstehen wir uns so nicht als bloßer Wirtschaftsverband, sondern auch als Kulturverband. Wir treten ein für die Werte einer freien, demokratischen Gesellschaft – für eine offene, vielfältige Gesellschaft, für Toleranz, Solidarität und Gewaltfreiheit – und stellen uns gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus. Diese Werte sind Grundvoraussetzung für die Arbeit der Branche und für jegliche kulturelle Entwicklung. Meinungsfreiheit umfasst nämlich den Respekt für andere Meinungen und Ansichten, die Bereitschaft zum Dialog und zur Auseinandersetzung, die geprägt sind von Toleranz, Gewaltfreiheit und der Ablehnung von Diskriminierung und Ausgrenzung. Kultur ist ein universales Gut, das sich durch den lebendigen Austausch über Grenzen hinweg formt und weiterentwickelt.

Blicken wir zurück in der Geschichte, haben wir als Verband schon einmal eine andere Position ein-genommen. Ziemlich genau vor 85 Jahren, am 12. April 1933, legte der damalige Gesamtvorstand des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler zu Leipzig ein sogenanntes Sofortprogramm vor, in dem sich der Verband unmissverständlich den neuen Machthabern andiente. Unsere Vorgänger versuchten, die Gunst der Stunde für die Durchsetzung eigener politischer und wirtschaftlicher Interessen zu nutzen. So haben sie etwa aktiv die Bücherverbrennung unterstützt, um im Gegenzug etwa zu erreichen, dass unliebsame Konkurrenten wie Buchgemeinschaften, Warenhäuser oder Leihbibliotheken ausgeschaltet werden. Aus opportunistischen Beweggründen hat der Verband damals freiheitliche, demokratische Werte über Bord geworfen. Als Vorsteher des Börsenvereins erfüllt mich unsere damalige Haltung und Rolle mit Scham. Unser innerer Wertekompass ging uns verloren. Daraus haben wir gelernt. Aus unserem damaligen Opportunismus erwächst Verantwortung. Deshalb halten wir an unseren Grundsätzen fest und treten für sie ein.

Meine Damen und Herren, das Buch hat nach wie vor höchste Relevanz für unsere Gesellschaft. Unsere Branche ist der Ort, in der Ideen Form finden, Meinungen befördert werden und sich unsere Gesellschaft weiterentwickelt. Das kann auch schmerzen und anstrengend sein. Aber es ist unverzichtbar für unsere Demokratie.

Lassen Sie uns die Leipziger Buchmesse nutzen, uns wieder unserer Werte zu vergewissern. Lassen Sie uns eintreten für Freiheit, Toleranz und Vielfalt – friedlich und im Dialog.

Vielen Dank!“