Lesetipp zur Lesefertigkeit von Grundschülern

"Das klingt diskriminierend? Das ist die Realität"

30. Mai 2018
von Börsenblatt
Kinderbuchautorin Kirsten Boie steuert in der aktuellen Ausgabe der "Zeit" den Artikel "Es ist zum Weinen" bei. Darin legt sie auch anhand eigener Erfahrungen detailliert dar, welche Entwicklungsmöglichkeiten Kindern dauerhaft genommen werden, wenn sie keine vertiefte Lesefertigkeit vermittelt bekommen.

Boie berichtet von höchst unterschiedlichen Erfahrungen, die sie bei Lesungen in Stadtteilen mit höherem Grundeinkommen und in solchen in sozialen Brennpunkten macht. Bei ersteren säßen die Grundschüler mit offenen Mündern da und stellten unzählige Fragen, bei letzteren hielten sie "zwanzig Minuten tapfer durch" − "in ihren Köpfen entstehen keine Bilder, sie empfinden keine Spannung. Ihr erstes Buch haben nicht wenige von ihnen erst in der Schule kennengelernt, wenn nicht vorher zufällig eines im Happy Meal einer Hamburgerkette zu finden war. Das klingt diskriminierend? Das ist die Realität."

Die Hamburger Jugendbuchautorin und promovierte Literaturwissenschaftlerin verweist dabei auf die jüngst veröffentlichte IGLU-Studie, nach der ein Fünftel der Zehnjährigen in Deutschland nicht den Sinn eines Texts versteht: "18,9 Prozent sogenannte funktionale Analphabeten unter den Kindern werden einmal 18,9 Prozent unserer Erwachsenen sein." Boie fragt, wie sie später Arbeit finden können und fordert, dass die Politik deutlich mehr in die frühen Jahre der Kinder investieren müsse. Mit dem beschämenden status quo mag sich Boie nicht zufrieden geben - ausführlich legt sie dar, was das Lesen für die Entwicklung des Kinde leistet, was andere Medien nicht vermögen und dass Bücher Hilfestellung bei Entscheidungen für die Zukunft geben: "Je mehr Geschichten ich kenne, desto mehr Verhaltens- und Lösungsmöglichkeiten, aber auch Risiken habe ich kennengelernt."

Zur Lösung des Problems verweist Kirsten Boie auf Förderprogramme von Schulen in angelsächsischen Ländern, bei denen die Kinder in der Ferienzeit verpflichtende Lektüren lesen müssen, bei denen Klassen in Leserallyes mit einer Mindestanzahl von gelesenen Büchern in Wettbewerb mit anderen Klassen treten usw. Die guten Ergebnisse in der Lesefähigkeit sprächen für sich, und: "Jede komplexe Tätigkeit erfordert Übung. Diese Übung sollte die Schule allen Kindern anbieten."