Neue Titel über alte Kriminalfälle

Mord kennt kein Vergessen

30. Mai 2018
von Andreas Trojan
Ungelöste Fälle aus der Vergangenheit sind das Salz in der Suppe gewiefter Ermittler. Das Thema beschäftigt auch zahlreiche Autoren, wie diese Auswahl zeigt.

Zeitreise in die ausgehende Kaiserzeit: eine Antiquarin ermittelt

Die Zahl, die das Bundes­kriminalamt kürzlich bekannt gab, spricht Bände: In den vergangenen Jahren konnten mehr als 600 Mordfälle (offiziell: "vollendete Straftaten gegen das Leben") nicht aufgeklärt werden – Tendenz steigend. Die Schicksale hinter dieser Statistik dürften auch die Fantasie von Krimiautoren beflügeln.

Dagmar Scharsich lässt ­ihren neuen Roman "Der grüne Chinese" (Ariadne, 475 S., 12,90 Euro) im Jahr 2009 in Berlin beginnen: Dort leitet Maria Baer gemeinsam mit ihrem Groß­vater ein Antiquariat. Eines Tages kommt eine junge Frau ins Geschäft und bietet alte Krimigroschenromane zum Kauf an. Beim Sortieren der Hefte bemerken Maria und ihr Großvater auf dem Einwickelpapier eine Art Manuskript in Sütterlinschrift.

Es stammt von einer gewissen Wanda von Brannburg. 1909 sind einige ihrer Verwandten auf mysteriöse Weise verschwunden. Diese Fälle wurden nie aufgeklärt, ja, eher von höchster Ebene vertuscht. Schließlich geriet Wanda selbst in höchste Gefahr. Aber warum bedrohte man ihr Leben und das ihrer Familie? Steckten Bodenspekulanten dahinter? Oder ging es um mehr, nämlich um die schon anlaufenden Kriegsvorbereitungen des Kaiserreichs?

Maria Baer macht sich auf die Spur, um Licht ins Dunkel der Ereignisse zu bringen. Die Leser begleiten die ermittelnde Romanheldin dabei, erleben das Berlin am Ende der Kaiserzeit und begegnen dabei auch historischen Figuren wie Sarah Bernhardt und Albert Einstein. Das Krimikonzept Dagmar Scharsichs lässt sich auf einen Nenner bringen: Thriller meets history.

Vater und Tochter zerschlagen den gordischen Knoten

Jørn Lier Horst weiß, wovon er schreibt, denn er war lange Zeit in leitender Position bei der norwegischen Polizei tätig. In "Jagdhunde" (Droemer, Juni, 397 S., 9,99 Euro) bläst der Hauptfigur ein kräftiger Wind ins Gesicht: Hauptkommissar William Wistling wird vom Dienst suspendiert. Ein Mann, der eine Frau entführt und getötet haben soll, erwirkt mit einem neuen Entlastungszeugen die Revision seines Falls, den Wistling aufgeklärt hatte.

Saß der Mann jahrelang zu Unrecht im Gefängnis? Und ist Wistling dafür verantwortlich? Ein alter Fall wird also neu aufgerollt – und Wistling muss die Beweise neu analysieren, nach Fehlern suchen. Dazu kommt, dass seine Tochter, eine äußerst engagierte Journalistin, in einem anderen Mordfall ermittelt, der Parallelen aufweist. So arbeiten Vater und Tochter zusammen.

Was Jørn Lier Horsts Kriminalroman »Jagdhunde« so spannend macht, sind die unterschiedlichen Charaktere: Wistling, ein alter Hase der Kriminalistik, geht logisch, eher nüchtern und ruhig bei seinen Nachforschungen vor. Seine Tochter Line ist impulsiv, scheut kein Risiko und wagt sich gefährlich weit vor. Auch wenn im Laufe des Geschehens die Handlungsstränge durchaus komplexer werden, zerschlagen Vater und Tochter den gordischen Krimi-Knoten meisterhaft. Ein starkes Ermittler-Duo, das schwer  zu (s)toppen ist!

Das Ende der DDR und ein toter NVA-Major

Claudia Rikls Debüt­krimi "Das Ende des Schweigens" (Kindler, 522 S., 14,99 Euro) widmet sich einer Zeit, an die sich die Autorin selbst noch gut erinnern kann: dem Ende der DDR. Rikl machte damals gerade Abitur und erlebte mit, wie die Geschichte eines ganzen Staates kollektiv verdrängt wurde. Ihr Krimi beginnt mit einem Leichenfund in Neubrandenburg: Hans Konrad, früher Major der NVA, hat sich in seinem Ferienhaus die Puls­adern aufgeschnitten.

Doch was zunächst wie ein Suizid aussieht, ist auf den zweiten Blick Mord: Der Ex-Major wurde erdrosselt, seine Zunge herausgeschnitten. Hauptkommissar Herzberg muss seine Ermittlungen in alle Richtungen führen. Das betrifft die Familie des Toten ebenso wie dessen Vergangenheit. Denn Konrad diente zu DDR-Zeiten in einer berüchtigten Kaserne. Könnte also sein, dass da jemand späte Rache an Konrad üben wollte. Kommissar Herzberg wird bei diesem Fall auch mit seiner eigenen Vergangenheit und seiner Haft im Stasi-Gefängnis Bautzen konfrontiert: "Menschen drangsalieren, das war alltäglich. Und die meisten kamen damit irgendwie zurecht. Ich habe das auch geschafft. Wie, weiß ich nicht mehr."

Claudia Rikl ist es durchaus gelungen, das Thema von Schuld und Sühne aus DDR-Zeiten in eine Kriminal­geschichte der Gegenwart einzubinden. Was aber auch heißt, dass schwere Schikanen und Todesfälle in der NVA nicht einfach ad acta gelegt werden dürfen – so wie jeder Mord, der noch der Aufklärung harrt.

Ein Verfahren, zwei Ebenen

"Der Mädchenkopf lag auf einem kleinen Haufen orange-brauner Blätter." Mit diesem Satz beginnt der Thriller "Der Kreidemann" (Goldmann, 380 S., 20 Euro). Die britische Autorin C. J. Tudor verstört ihre Leser bewusst mit starken Bildern,  so wie ihr Vorbild Stephen King. Ed, 42, Lehrer, alleinstehend und etwas schrullig, findet eines Tages in seinem Briefkasten eine seltsame Botschaft: ein Stück Kreide und ein gezeichnetes Strichmännchen. Und da weiß Ed, dass ihn Ereignisse aus seiner Kindheit einholen. Tudors Thriller wechselt geschickt die Erzählperspektive zwischen den Jahren 1986 und 2016, zwischen dem jugendlichen und dem erwachsenen Erzähler. Auf der ersten ­Ebene finden Ed und seine Freunde im Wald die Leiche einer jungen Frau – ohne Kopf. Dieses Verbrechen wurde nie aufgeklärt; weitere tragische Ereignisse scheinen damit in Verbindung zu stehen. Ed hat keine Wahl: Der 30 Jahre alte Mord muss aufgeklärt werden.

Auf falscher Fährte

Mysteriös und spektakulär zugleich beginnt der Thriller "Schwarzer Engel" (Piper, 476 S., 16,99 Euro) des italienischen Krimi-Meisters San­drone Dazieri: Als der Hochgeschwindigkeitszug aus Mailand in Roma Termini eintrifft, sind alle Passagiere aus der luxuriösen Executive Class tot. Natürlich denkt man zuerst an einen Terroranschlag, doch die zuständige Kommissarin Colomba Caselli hat da so ihre Zweifel. Gemeinsam mit ihrem Freund Dante Torre, dessen psychologische Fähigkeiten kaum zu überbieten sind, beginnt Colomba mit ihren Recherchen – und stößt auf einen Täter, der jahrelang im großen Stil gemordet hat, ohne dass ihm jemals ein Ermittler auf die Spur gekommen wäre.

So wahnsinnig es klingt: Das Massaker im Zug galt einer einzigen Person, die vielen Toten sollten auf eine falsche Fährte führen. Um den Massenmörder, den "schwarzen Engel" zu finden, müssen Colomba und Torre tief in den Sumpf von Verbrechen und Terror eintauchen. Bei aller Brutalität, die so manche Szene ausmacht, besticht Dazieris Roman durch seine Dialogführung, die die Leser am kriminalistisch-logischen Denken teilhaben lässt.