Storydrive Peking

Von der Kulturtechnik zur Technologie: Erzählräume der Zukunft

4. Juni 2018
von Börsenblatt
Im 20. Jahr seines Bestehens lud das Buchinformationszentrum Peking der Frankfurter Buchmesse zur 6. Storydrive-Konferenz ein. Wie man künftig Geschichten im multimedialen Kontext erzählt und inszeniert, und was dies für das klassische Buchgeschäft bedeutet - dazu gab es an beiden Konferenztagen anregende Beiträge.      

Die Digitalisierung mit ihren technologischen Möglichkeiten wird die Wege und Formate, über die Geschichten transportiert werden, nachhaltig verändern. "Storytelling im digitalen Zeitalter wird die klassischen Inhalte nicht zum Verschwinden bringen, sondern in neuer Form repräsentieren", sagte Enrico Brandt, Kulturattaché der Deutschen Botschaft in Peking, zum Auftakt der Konferenz Storydrive Peking, die am 31. Mai und am 1. Juni in Peking stattfand. Neue Technologien wie Augmented Reality (AR) und Künstliche Intelligenz (KI) könnten einen leichteren und effektiveren Zugang zu Inhalten ermöglichen und die Verbreitung von Literatur unterstützen.

Wie Geschichten heute erzählt werden können, welche medialen und transmedialen Möglichkeiten es gibt – davon konnte man sich auf der sechsten Ausgabe von Storydrive in Peking einen guten Überblick verschaffen. Autoren, Übersetzer, Verleger, Illustratoren, Buchdesigner, Filmemacher, Musikmanager und Start-up-Gründer aus zehn Ländern waren im National Convention Center am Olympiagelände versammelt, um ein tendenziell jüngeres Publikum über die aktuellen Entwicklungen in ihren Branchen zu informieren. Gastgeber der Konferenz war das Buchinformationszentrum Peking der Frankfurter Buchmesse (BIZ Peking), Partner unter anderen das Goethe Institut, die Tourismus+Congress GmbH der Stadt Frankfurt und das German Centre for Industry and Trade in Bejing.

Schräge Vögel

Für Claudia Kaiser, die Gründungsdirektorin des BIZ Peking, geht es bei Storydrive darum, wie die traditionelle Verlagsindustrie weiterentwickelt werden kann. Schon der erste Vortrag – oder besser: die erste Performance – des Nankinger Künstlers und Buchdesigners Zhu Yingchun zeigte, wie transmediales Erzählen im Internet-Zeitalter funktionieren kann. Im November 2017 informierte Zhu seine Freunde auf WeChat über die Begegnung mit einem merkwürdigen Wesen in seinem Garten: Auf einem Foto, das er in dem sozialen Netzwerk postete, sieht man eine einbeinige Kreatur, halb Vogel, halb Fisch, mit menschlichen Augen. Zhu taufte das Wesen Uni-Ped – „Einfuß“.

Ein Foto wenige Tage später zeigt eine Reihe weiterer, ähnlicher Vögel. Natürlich alle Artefakte, die Zhu nach Zeichnungen geformt hatte, die schon Jahre vorher entstanden waren. Die Idee: Die Hinterlassenschaften von Vögeln regen die Fantasie an, in ihnen seltsame Figuren zu erkennen, die selbst etwas Vogelartiges haben. Auf diese Weise entdeckte – oder: imaginierte – Zhu eine Reihe von seltsamen, bisweilen monströsen Vögeln, die er zur Gattung der „cacaform birds“ zusammenfasste. Eine ganze Serie mit gezeichneten Vogelklecks-Kreaturen ist so entstanden, und in Workshops mit Kindern erzählt der Künstler nun seine Geschichte und regt zur Nachahmung an.

Mit den interdisziplinären Möglichkeiten der Illustration beschäftigte sich der Bilderbuchautor und Illustrator Caver Zhang (Künstlername: Schwarze Katze) aus der Boomstadt Shenzhen in seiner Präsentation. Interdisziplinär nimmt bei Chang ganz neue Bedeutungen an: Illustration ist eine Technik, die zwischen Kunst und Design steht, ohne von beiden als eigenständig anerkannt zu sein. Gleichzeitig vermittelt sie zwischen den verschiedensten Dingen und oszilliert zwischen unterschiedlichen Medien. Hinter Zhangs Arbeit – er wurde 2017 für seine Arbeit "A Coin" mit dem Global Illustration Award in Gold ausgezeichnet – steht ein geistiges Konzept universeller Eigenschaften, die fundamental sind für die Menschlichkeit, und die verschiedene Wege des Ausdrucks suchen. (Informationen zum Global Illustration Award 2018 finden Sie hier.)

Zhangs preisgekrönte Illustrationen sind für Yu Kwang-chungs Gedichtband "A Coin" entstanden, der im Verlag Heryin Books (Taiwan) erschienen ist. Chou Yih-fen, Gründerin und Cheflektorin von Heryin, sprach über die schwierige Aufgabe, einen Illustrator zu finden, dessen Zeichnungen Yus Stil entsprechen könnten. Mit der Verpflichtung Caver Zhangs gelang es ihr, dem Dichter einen kongenialen Illustrator an die Seite zu stellen.

Auf den ersten Themenblock zu "Visual Storytelling" folgten zwei Vorträge zu "Neuen Geschäftsmodellen": von Ren Hui, dem Gründer und CEO von Ellabook, und von Huang Yikun, Präsident des Jianshu Copyright Center. Ren hat animierte Bilderbücher entwickelt, die für mobile Geräte entwickelt wurden; Huang hat mit Jianshu das chinesische Pendant zu Wattpad, der beliebten Lese- und Schreibplattform, geschaffen.

Der kleinste Philosoph der Welt

Der Nachmittag des ersten Konferenztag stand ganz im Zeichen der Bildung. "Future Education" war das Stichwort. Und da wurden ganz unterschiedliche Projekt und Geschäftsideen aufgeboten, die gerade auch unter dem Aspekt des Transmedialen sehr aufschlussreich waren.

Gestatten, Knietzsche, der kleinste Philosoph der Welt! Anja von Kampen, Filmproduzentin, Kinderbuchautorin und Schöpferin der Zeichentrickfigur mit den staunenden Augen, stellte ihr Konzept vor. Am Anfang stand die Frage, wie man Philosophie für Kinder verständlich machen könnte. Dann entstand die Idee zu "Knietzsche". Vier Dinge waren Anja von Kampen von Beginn an wichtig:

1.) Mache es cool!
2.) Lass die Ehrfurcht vor der Philosophie beiseite!
3.) Bringe Tiere mit ins Spiel!
4.) Philosophie ist ein Abenteuer!

Nach zahlreichen Filmepisoden entstand 2016 das erste Buch: "Knietzsche und das Hosentaschen-Orakel", erschienen im mixtvision Verlag. Inzwischen liegen 50 Folgen in sieben Sprachen vor, darunter auch auf Englisch und Chinesisch. Zu den Episoden gibt es zudem kleine Bilderbücher, die in mehrere Sprachen übersetzt worden sind. Einen Vertrag für zwölf weitere Episoden hat von Kampen kürzlich unterzeichnet. Ein weiteres Buch ist ebenfalls in Vorbereitung, diesmal über das Thema Tod.

Kampf gegen die Langeweile

Gakko heißt auf japanisch Schule und ist der Name eines New Yorker Bildungs-Start-ups aus Lower Manhattan – der Gegend zwischen Soho und Tribeca. Sein Gründer, Kenta Koga, hat vor allem ein Ziel: die ungenutzte Zeit, die Schüler im Unterricht verbringen, mit Bildungsabenteuern zu füllen. Umfragen hätten ergeben, dass Schüler nur etwa 10 Prozent ihres Unterrichts als anregend empfänden.

Koga und sein Team haben verschiedene Formate entwickelt, um die Lernlust der Schüler zu steigern: Lerncamps in verschiedenen Ländern; Unterrichtsklassen außerhalb der Schule, in denen Experten aus verschiedenen Branchen unterrichten; und schließlich digitale Tools, die ein spielerisches Erlernen von Sprache und Schrift ermöglichen (unter anderem die App Mojimoji). Gakko hat inzwischen auch ein Büro in Tokio, dessen Aktivitäten Kogas Kollegin Reiri Ray Kojima vorstellte. Im japanischen Schulwesen stehen große Veränderungen an: mit dem neuen Schulcurriculum in den Jahren 2020 bis 2022. Da soll es schwerpunktmäßig um kognitive Kompetenzen, Soft Skills und die Stärkung der Persönlichkeit gehen.

Augmented und Virtual Reality (AR / VR) standen im Fokus von Gerald Cais Präsentation „AR Publishing: Trends, Opportunitiers and Learning“. Der Partner und Mitgründer der Firma MXRi aus Singapur stellte einige AR-Anwendungen vor, darunter ein Buch, in dem Dinosaurier zum Leben erweckt werden ("iDinosaur"), und eine App, mit der man die Bühne des Auditoriums in ein Basketball-Feld verwandeln konnte.

Ein "unübersetzbares" Buch

Literarisch eingeleitet wurde der zweite Konferenztag: mit der außergewöhnlichen Geschichte einer Übersetzung, Anna Holmwoods Übertragung eines als "unübersetzbar" geltenden chinesischen Mittelalter-Heldenromans, des ersten Teils der Trilogie "Legends of the Condor Heroes" des chinesischen Erfolgsautors Jin Yong, im Original bereits 1957 erschienen. Holmwood, die neben ihrer Übersetzertätigkeit auch als Literaturagentin tätig ist und über intime Kenntnisse der chinesischen Sprache und Kultur verfügt, schilderte dem Publikum ihre Herangehensweise.

Sie nähert sich dem Text aus unterschiedlichen literarischen Perspektiven – mit großem Respekt vor der Einzigartigkeit des Originals. Und ihr ist zugleich bewusst, dass es unmöglich ist, alle poetischen Zwischentöne, historischen Referenzen und Anspielungen des Originals ins Englische hinüberzuretten. Der von Holmwood übersetzte Band "A Hero Born" ist im englischen Verlag MacLehose Press erschienen.

Buchmärkte Georgien, Taiwan, Deutschland

Mehrere Buchmärkte nahmen die Präsentationen von Giorgi Kekelidse (Schriftsteller und Generaldirektor der georgischen Nationalbilbiothek), Chao Cheng-Ming (Chairman and General Manager China Times Publishing, Chairman Taiwan Book Fair Foundation, Taiwan) und Börsenblatt-Redakteur Michael Roesler-Graichen in den Blick. Während der vergleichsweise kleine georgische Buchmarkt aufstrebend ist, haben Taiwan und Deutschland mit Problemen zu kämpfen. Der taiwanesische Markt schrumpft seit Jahren, und man versucht, mit allen möglichen Buch- und Produktkampagnen vor allem die jüngere Zielgruppe für das Lesen zu begeistern. So gibt es beispielsweise eine breite Palette an Fanprodukten rund um die Sympathie-Comicfigur Dorothy – einer von vielen Bausteinen der Strategie, mit denen Chao versucht, den Bedeutungsverlust des Marktes zu stoppen.

In Deutschland wiederum spiegeln die Marktzahlen ein stabiles Buchgeschäft, doch hinter den Kulissen verliert der Handel mehr als sechs Millionen Kunden innerhalb von fünf Jahren und muss sich Gedanken um seine Zukunft machen. Im Wettbewerb mit anderen Medienangeboten – vor allem Games und Video-Streaming –, kommt das Medium Buch bei immer mehr Menschen zu kurz, so ein vorläufiges Ergebnis der aktuellen Buchkäuferstudie des Börsenvereins, deren Endfassung bei den Buchtagen in Berlin (12. / 13. Juni) präsentiert wird.

Karajan und die erste CD

Neue Geschäftsmodelle bildeten den Schwerpunkt des Nachmittagsprogramms am zweiten Konferenztag. Matthias Röder, Geschäftsführer des Karajan-Instituts in Salzburg, sprach über die Möglichkeiten, klassische Musik mit KI-Technologien zu kombinieren. Künstliche Intelligenz kann nicht nur innovative Klangerlebnisse bescheren, sondern zugleich dabei helfen, bekannte Musikstücke in einer ganz neuen, personalisierten Weise zu verbreiten: etwa mit einer von US-Computerspezialisten entwickelten App, die eine Playlist in Korrelation zum persönlichen Herzschlag zsuammenstellt.

Künstliche Intelligenz und Karajan sind kein Widerspruch, sondern gehören aufs engste zusammen, so Röder: Karajan liebte die Technology und präsentierte 1981 im Beisein des damaligen Chefs von Sony, Akio Morita, in Salzburg die erste CD!

Das Hörbuch hat Potenzial

Welches Potenzial gesprochene Geschichten in einer Zeit haben, in der der visuelle Sinn durch Bildschirmmedien absorbiert wird, demonstrierten Huang Yuning (Shanghai Translation Publishing House), Tarek El Bolbol, CEO und Mitgründer von Booklava (Dubai) und Michael Treutler, der als Senior Vice President bei Audible für International Content & Publishing verantwortlich ist. Huang entwickelt Hörbücher, die Klassiker in einer vereinfachten und gekürzten Version wiedererzählen – ein Buch für jeden Tag. El Bolbol hat mit Booklava eine Plattform geschaffen, über die Nutzer in der gesamten arabischsprachigen Welt Inhalte herunterladen können. Und Audible, seit 2008 ein Unternehmen von Amazon, setzt literarische Stoffe weltweit in Szene – und kann wegen des globalen Absatzmarktes auch Stars für Produktionen verpflichten, die ein nationaler Hörbuchverlag nicht honorieren könnte.

Den Schlusspunkt des Konferenzprogramms setzte Tuo Buhua, die Mitgründerin der Luogic Knowledge Group und der DeDao App, mit einem sehr eloquenten Vortrag, der den Simultanübersetzerinnen das Äußerste abverlangte. Die Idee der DeDao App: Wissen in kleine Portionen zerlegt, für ein tägliches individuelles Lernprogramm von 20 Minuten.

Fazit

Claudia Kaiser und Katharina Ewald (Frankfurter Buchmesse), die die Konferenz an beiden Tagen sicher moderiert hatten, konnten mit dem Ergebnis zufrieden sein. Storydrive Peking hat eines gezeigt: In einer Welt der Digitalisierung und des rasanten Medienwandels bieten neue Technologien bis hin zur Künstlichen Intelligenz große Chancen für die Verbreitung klassischer Inhalte – ob aus Literatur oder Musik. Das Internet als grenzüberschreitendes Medium kann Potenziale und Zielgruppen erschließen, die weit über die Möglichkeiten traditioneller, nationaler Märkte hinausgehen. Das Szenario der Zukunft könnte ein Content-Universum sein, das auf dem Fundament des klassischen Mediums Buch komplementäre Medienwelten erschafft. Selbst wenn sich die Formate immer mehr vom Buch entfernen, der Bezugspunkt bleibt immer das Erzählen als die Quelle jeder Imagination.

20 Jahre BIZ Peking

Zum Ausklang der Konferenz lud das BIZ-Peking-Team zur Party auf der Dachterrasse des internationalen Buchladens „The Bookworm“ – mitten im brodelnden Ausgehviertel Sanlitun. Dort wurde im Beisein des Kulturattachés der Deutschen Botschaft, Enrico Brandt, auf den 20. Geburtstag des BIZ Peking angestoßen.