Konstantin Götschel über Leserschwund und Digitalisierung

Tod der Beliebigkeit

12. Juli 2018
von Börsenblatt
Mit der fortschreitenden Simplifizierung von Inhalten schaffen die Verlage die Leser quasi selbst ab. Denn ob sie Fernsehen, "Candy Crush" spielen oder Massenware lesen macht keinen Unterschied. Das meint Konstantin Götschel (30), Historiker und - nach Stationen bei größeren Verlagsgruppen - Lektor bei einem Münchner Independent Verlag.

Zwei grundstürzende Entwicklungen treiben die Branche derzeit in besonderem Maße um: die Digitalisierung mit all ihren Implikationen und Weiterungen und der jüngst festgestellte Verlust von gut sechs Millionen Lesern.

Die Verlage sehen ratlos dabei zu, wie ihr Publikum und mit ihm ihr Absatzmarkt (ver-)schwindet. Mit derselben Rat- und häufig auch Kopflosigkeit versuchen sie derweil, die Digitalisierung ihrer Strukturen und Produkte voranzutreiben. Innovative Projekte werden gesucht, Plattformen entwickelt, die den Lesern Mehrwerte bieten sollen, Vertrieb und Marketing elektronischer und datenorientierter. Die Verlage übersehen dabei, dass ihre beiden Problemfelder in einer engen Verbindung stehen.

Für einige Fachverlage und Anbieter auf dem Bildungsmarkt macht es zweifelsohne Sinn, neue, digitale Angebote zu entwickeln, das Buch gewissermaßen aufzubinden oder gleich ganz zu makulieren – sie sind dann eben keine Verlage mehr. Und natürlich müssen auch Publikumsverlage prüfen, wie Arbeitsabläufe verbessert, welche Produktionsschritte sinnvollerweise digitalisiert werden können.

Simplifizierung von Inhalten

Aber gerade die großen Verlagsgruppen gehen weit darüber hinaus: Sie setzen ganz auf data-driven Marketing, optimiertes Targeting von potentiellen Käufern und clevere Pricing-Strategien, um den verbliebenen Lesern immer noch mehr der immer gleichen – und meist niedrigpreisigen – Produkte zu verkaufen. Die Optimierung des Rankings durch den Google-Algorithmus geht einher mit der Simplifizierung von Inhalten, Sprache und Ausstattung.

Verbindet man diese Art der Digitalisierung dann noch mit der Eventisierung und Infantilisierung des Lesens, wie die GfK es vorschlägt, kann man gewiss sein, dass man den Kunden, dem es letztlich egal ist, ob er fernsieht, Candy Crush spielt oder Romance-Massenware liest, nicht nur bedient – man erschafft ihn. Die verbleibenden Leser werden zu Illiteraten; man wendet sich an ein Publikum, das bei nächster Gelegenheit das Buch zur Seite legen wird oder schlicht ausstirbt – in der jungen Generation kommen keine Leser nach.

Narrativ vom "Kulturgut Buch"

Hier stellt sich natürlich auch die Frage nach der Buchpreisbindung. Die Empfehlungen der Monopolkommission führten zu einem Aufschrei der Branche, die die "Banausen" verfluchte; die Kulturbeauftragte der Bundesregierung und die Bundestagsfraktionen erklärten unisono, die Buchpreisbindung stehe nicht zur Disposition. Aber wie lange glauben wir eigentlich, das Narrativ vom "Kulturgut Buch" noch aufrechterhalten zu können, wenn unsere Bücher keine Kultur mehr haben? Mit welchem Recht sollte der zehntausendste Nackenbeißer gegenüber dem Angebot des Streamingdienstes oder Appentwicklers privilegiert werden?

Genreliteratur, die keinen ästhetischen und intellektuellen Ansprüchen genügt (die sie selbst ja auch gar nicht erhebt), zeitgeistige Ratgeber, kurzlebige Sachbücher dominieren die Bestsellerlisten und den Büchermarkt, und die Digitalisierung dürfte diese Entwicklung noch radikalisieren; aber gerade derlei Titel haben gegen das Internet und seine vielfältigen und oft kostenlosen Angebote auf mittlere Sicht keine Chance. Die einzig sichere USP des Buches ist die, dass es "einer hyperkomplexen Realität zu genügen" vermag, wie es Jörg Bong vor einiger Zeit in der FAZ formuliert hat.

Das ist eine schlechte Nachricht – für alle Verlage, die in zunehmendem Maße dem sich auflösenden Markt hinterherschreiben; für alle Verlage, deren Programme beliebig, unambitioniert und unkonturiert sind. Sie können mit großem Aufwand kurzfristig Umsätze steigern, Marktanteile gewinnen. Aber ihre Leser werden bald verschwunden sein.

Keine schlechte Nachricht ist es indes für Verlage, die anspruchsvolle, gut ausgestattete Bücher herausbringen – und das sind, nicht immer, aber häufig, die Independents. Nicht jedes Buch muss von jedem gelesen werden – oder auch nur gelesen werden können. In der Geschichte war es immer nur ein kleiner Teil, der gelesen hat; das wird wieder so sein. Künftige Buchkäufer werden in bewusster Abgrenzung zu digitalen Angeboten lesen, nicht um sie zu substituieren. Bücher werden ein Teil des von Rainer Groothuis an dieser Stelle angedeuteten analogen Kulturbündnisses sein. Der Markt wird kleiner. Aber das gute Buch wird überleben – und mit ihm die guten Verlage.