Interview mit Michael Lemling von der IG Meinungsfreiheit

"Wir wollen ein Leuchtfeuer anzünden"

26. Juli 2018
von Börsenblatt
Die Interessengruppe Meinungsfreiheit, 2017 gegründet, baut verbotenen Büchern eine Bühne. Sprecher Michael Lemling über die Aktion – und einen Buchhandel, wie er ihn sich wünschen würde.

Was verbinden Sie mit dem Namen Mahmud Doulatabadi?
Das ist ein iranischer Schriftsteller, dessen Roman "Der Colonel" im Unionsverlag weltweit erstveröffentlicht wurde. Im Iran ist sein Buch bis heute verboten.

Sie haben den Roman Doulatabadis auf der Internetseite des Börsenvereins wort-und-freiheit.de empfohlen, doch Sie hätten auch andere Titel nennen können. In vielen Ländern sind Bücher verboten, werden Autoren drangsaliert. Warum dieses Buch, das ein düsteres Bild der Zeit der islamischen Revolution unter Chomeini zeichnet?
Ich wusste bislang gar nicht, dass das Buch im Iran verboten ist, sondern habe erst durch Lucien Leitess, den Unionsverleger, der wie ich auch in der IG Meinungsfreiheit ist, davon erfahren. Das hat mich neugierig gemacht. Und es ist schlichtweg ein beeindruckendes Buch über die Revolutionszeit.

Gibt es bei uns zu wenig Wissen darüber, welche Bücher andernorts verboten sind, welche Autoren in Ihrer Arbeit behindert werden?
Keiner muss wissen, welche Bücher verboten sind. Aber dass Meinungsfreiheit an vielen Orten eingeschränkt wird, ist eine Tatsache, der man sich stellen sollte. Wir in der IG Meinungsfreiheit wollten ausgehend von der Bücherverbrennung eine Brücke zur heutigen Situation schlagen und deutlich machen, was gegenwärtig in anderen Ländern "Bücherverbrennung" heißen kann. Und das heißt zunächst einmal, Bücher, die sich kritisch mit der Situation in einem anderen Land beschäftigen, zur Kenntnis zu nehmen. 

Wie viele Bücher von Autoren, die in Ihrer Heimat zensiert werden, gibt es in deutscher Übersetzung?
Die Frage kann ich nicht beantworten. Wir wissen es nicht und würden das gern ändern. Das ist der Gedanke, der hinter dem Aufruf an Buchhändler und Verleger steht, auf solche Bücher hinzuweisen – und damit auch deutlich zu machen, welcher Mut für Autoren dazugehört, bestimmte Titel auch im Ausland, also auch hier in Deutschland, in der Schweiz oder in Österreich, zu veröffentlichen. Denn das macht ja ihre Situation in ihrer Heimat nicht einfacher. Wir wollen uns also aus dieser Unwissenheit peu à peu herausentwickeln und ein Leuchtfeuer anzünden.

Ihre Kollegen im Buchhandel sind bisher sehr zögerlich. Woran liegt das?
Es gibt einen Kanon der Autoren, deren Bücher damals in Deutschland verbrannt wurden. Jeder kann da eine Reihe von Namen nennen. Aber die heutige Situation in zahlreichen Ländern ist viel undurchsichtiger. Ich glaube, vieles liegt einfach nicht so auf der Hand. Andere Bücher von Doulatabadi sind im Iran etwa durchaus erschienen. Aber man muss schon sagen: Wir haben keine Liste von 20 Büchern, die verboten sind.

Die IG Meinungsfreiheit wurde im Vorjahr auf der Buchtagen gegründet. Was war der Anlass?
Der Fall Deniz Yücel hat unsere Aufmerksamkeit stark auf dieses Thema gelenkt, auf die Unterdrückung von Presse- und Meinungsfreiheit. Die "Free Deniz"-Kampagne wurde bekanntlich auch durch die Buchbranche massiv unterstützt. Die Menschenrechtssituation in der Türkei insgesamt geriet so noch einmal stärker ins Blickfeld. Und wir haben uns gesagt, man kann und sollte mehr tun, als ein Plakat aufzuhängen. Und wir sollten nachhaltiger agieren, als auf einen herausragenden Fall zu reagieren. Dieser Fall war wichtig. Aber neben Deniz Yücel gibt es viele andere, die in Haft sind – nicht nur in der Türkei. Wir wollen das auf unsere Branche beziehen und vor allem auch schauen, welche Buchhändler und Verleger in Bangladesch, in Myanmar, in Weißrussland und anderswo unsere Unterstützung brauchen.

Was haben Sie bislang erreicht?
Es wäre vermessen zu glauben, wir machen eine Homepage, sammeln die Fälle, die es gibt, schreiben Briefe – und die inhaftierten Kollegen kommen sofort frei. Das ist ein zäher Prozess. Wir haben einen Anfang gemacht und auf unserer Website viele Fälle gesammelt und dokumentiert. Darunter sind prominente Fälle wie Gui Minhai in China und Osman Kavala in der Türkei, aber auch bislang unbekannte. Noch haben wir viel zu wenig erreicht.

Deniz Yücel ist ebenso freigekommen wie die türkische Autorin Aslı Erdoğan. Sind das Beispiele, die Hoffnung machen?
Die enorme Aufmerksamkeit, die auf den beiden Fällen lag, hat sicher geholfen. Es geht darum, Öffentlichkeit herzustellen. Da sind wir gefordert. Wir tasten uns vor.

Sollte der deutsche Buchhandel politischer und diskussionsfreudiger werden, internationaler denken?
Ich glaube schon. Unsere Buchhandlungen sind Orte, wo wir nicht nur die schöngeistige Literatur präsentieren, sondern auch politisch kontroverse Diskussionen anstoßen oder befördern können. Überall auf der Welt kracht es und brennt es. In unserem eigenen Land wird hitzig diskutiert. Jede Buchhandlung hat eine Sachbuchabteilung und kann diese – auch durch Veranstaltungen – herausstellen.  

Bei einer Veranstaltung Ihrer Lehmkuhl-Buchhandlung in München war zu lernen, dass Russland hinsichtlich der Meinungsfreiheit auf Platz 148 rangiert. Eingeladen hatten Sie dazu mit dem Slogan "Wer in den kommenden Wochen über Fußball reden möchte, darf über die politischen Verhältnisse in Russland nicht schweigen". Wie kam das bei Ihren Kunden, vor allem den Fußballfans unter ihnen, an?
Ich weiß nicht, ob sich die hartgesottenen Fußballfans angesprochen gefühlt haben. Wir machen über 30 Lesungen im Jahr, das waren bisher nur literarische Veranstaltungen. Und wir haben nun das Programm geöffnet – hin zu kontroversen politischen Themen. Wir haben in den letzten Monaten über Migration, Zensur, Rechtsextremismus gesprochen – bei den Kunden ist das sehr gut angekommen. Ich bin selbst Fußballfan. Aber man sollte, wenn man auf die WM schaut, nicht vergessen, dass dieses Land von einem Autokraten regiert wird. Und dass Russland hinsichtlich der Meinungsfreiheit auf Rang 148 von 180 bewerteten Staaten rangiert – das ist doch eine bemerkenswerte Aussage.

Die Buchmesse steht bald an. Eigentlich eine gute Plattform, um für Meinungsfreiheit zu werben.
Ja, diese Plattform werden wir auch nutzen. Es gibt eine gemeinsame Kampagne des Börsenvereins und der Buchmesse, "We're on the same page", die mit Blick auf den 70. Jahrestag der Erklärung der Menschenrechte starten soll. Wir wollen uns mit der Unterstützung prominenter Autoren für verfolgte Autoren, Verleger und Buchhändler einsetzen.

Verbotene Bücher

Unter wort-und-freiheit.de stellen Buchhändler Werke vor, die in deutscher Übersetzung vorliegen, aber in der Heimat der Autoren verboten sind. Den Anfang macht Michael Lemling mit dem Roman "Der Colonel" aus der Feder des iranischen Autors Mahmud Doulatabadi (Unionsverlag).  

Verlage, die einen Titel empfehlen möchten, und Buchhändler, die ein entsprechendes
Werk vorstellen wollen, können sich an John Steinmark vom Börsenverein wenden, E-Mail: steinmark@boev.de.