Friedenspreis für Aleida und Jan Assmann - der Festakt in der Paulskirche

"Wahr ist, was uns verbindet"

13. Oktober 2018
von Börsenblatt
In der Demokratie kann man das Denken nicht delegieren und den Experten, Performern oder Demagogen überlassen: Das machten die diesjährigen Friedenspreisträger Aleida und Jan Assmann am Sonntag in ihrer hochaktuellen Dankesrede in der Frankfurter Paulskirche deutlich. Und sie verrieten, wohin ihr Preisgeld geht: An drei Projekte, die vormachen, wie Integration und ein besseres Leben für alle gelingen können.

Rund 700 Gäste aus Politik, Medien und Kultur waren in der Paulskirche versammelt - aus Sicherheits- und Brandschutzgründen gut 200 weniger als in den Vorjahren. Mit im Publikum saßen die fünf Kinder der Preisträger. Seine Laudatio widmete der deutsch-amerikanische Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht auch ihnen - "weil die Lebensleistung von Aleida und Jan Assmann nicht von der Familie zu trennen ist". 

Geehrt werden die beiden Kulturwissenschaftler unter anderem für ihre Forschungsarbeit zum "Kulturellen Gedächtnis" einer Gesellschaft (mehr zur Begründung, zur Biografie und den Publikationen lesen Sie hier, ein Interview mit den Preisträgerin lesen Sie hier).

In ihrer Rede, die Aleida und Jan Assmann im Wechsel hielten, nahmen die Preisträger auf Vorgänger-Paare in der Paulskirche Bezug - auf Karl Jaspers, Friedenspreisträger von 1958, und seine Laudatorin Hannah Ahrendt sowie auf Alva und Gunnar Myrdal, 1970 für ihren Einsatz gegen das atomare Wettrüsten geehrt.

Zugleich schlugen sie immer wieder den Bogen zur politischen Diskussion in Deutschland. Und machten damit der Einschätzung von Börsenvereinsvorsteher Heinrich Riethmüller alle Ehre, der die Auszeichnung des Paares bei einem Pressegespräch auf der Buchmesse als "sehr politische Entscheidung" bezeichnet hatte.

"Die Nation ist kein heiliger Gral, der vor Befleckung und Entweihung – Stichwort "Vogelschiss" – zu retten ist", sagten Aleida und Jan Assmann in Anspielung auf eine Formulierung von AfD-Parteichef Alexander Gauland zur NS-Geschichte – "sondern ein Verbund von Menschen, die sich auch an beschämende Episoden ihrer Geschichte erinnern und Verantwortung übernehmen für die ungeheuren Verbrechen, die in ihrem Namen begangen wurden."


Identität entsteht nicht durch Leugnen - sondern braucht das Erinnern

Ein wichtiger Unterschied sei allerdings zu beachten, so die Preisträger: "Beschämend ist allein diese Geschichte, nicht aber die befreiende Erinnerung an sie, die wir mit den Opfern teilen. Deshalb entsteht Identität nicht durch Leugnen, Ignorieren oder Vergessen, sondern braucht ein Erinnern, das Zurechnungsfähigkeit und Verantwortung ermöglicht und einen Wandel der Werte und des nationalen Selbstbildes stützt." 

Demokratien würden zwar durch Streit und Debatten gestärkt – "aber auch in ihnen steht nicht alles zur Disposition", machte das Paar deutlich. "Es muss unstrittige Überzeugungen und einen Grundkonsens geben wie die Verfassung, die Gewaltenteilung, die Unabhängigkeit des Rechts und die Menschenrechte."

Demokratie lebt nicht vom Streit, sondern vom Argument

Und: "Nicht jede Gegenstimme verdient Respekt. Sie verliert diesen Respekt, wenn sie darauf zielt, die Grundlagen für Meinungsvielfalt zu untergraben." Demokratie, betonten Aleida und Jan Assmann, lebe nicht vom Streit, sondern vom Argument. "Pöbeleien oder gar eine Eskalation polarisierender Symbole wie in Chemnitz führen in einen Zustand allgemeiner Verwirrung, legen die Demokratie lahm und machen sie betriebsunfähig für wichtige Aufgaben."

Zu diesen wichtigen Aufgaben gehört die Integration: "Die zentrale Frage ist ja nicht mehr, ob wir die Integration schaffen oder nicht, sondern wie wir sie schaffen", so das Preisträger-Paar: "Im Moment sieht es fast so aus, als ginge die Entwicklung rückwärts.“ Die Verengung der öffentlichen Debatten auf wenige Themen trage viel zur Aufheizung von Stimmungen, aber wenig zur Klärung und Bearbeitung anstehender Probleme bei.

"Können wir zur Abwechslung bitte auch mal hören, wo etwas gelingt?"

Das fragte Aleida Assmann am Rednerpult. Danach stellten sie und ihr Mann drei Projekte vor, die sie mit dem Preisgeld von 25.000 Euro unterstützen wollen:

  • Den Verein Phoenix, gegründet von russischsprachigen Eltern, die in Deutschland Ende der 90er Jahre eine neue Heimat gefunden haben und sich jetzt um die berufliche Integration von Zuwanderern kümmern (mehr dazu hier). "Das tun sie übrigens im Wettlauf mit der AfD, die hier inzwischen äußerst clever und effektiv unterwegs ist, um Neuankömmlinge politisch zu vereinnahmen", so Aleida und Jan Assmann.
  • "Das Projekt "back on track – Syria", das dabei hilft, syrische Kinder nach den Erfahrungen von Bürgerkrieg und Flucht in eine normale Schullaufbahn zu integrieren. Mehr dazu hier
  • Den Verein "Helfende Hände", gegründet von zwei österreichischen Ehepaaren, der sich um die schulische und medizinische Versorgung in einer besonders armen Gegend von Kenia kümmert. Zum Projekt


Das Erbe von Hebron - und der trennende, ausschließliche Anspruch auf Wahrheit

Zum Schluss gingen die beiden noch auf ein internationales Friedensthema ein: Den Antrag der Stadt Hebron im Westjordanland, Weltkulturerbe zu werden. Er wurde von der Unesco zwar angenommen, aber zum Politikum, weil darin nur ein Teil der historischen Schichten Hebrons gewürdigt wird.

"Ein von Israel und den Palästinensern gemeinsam eingereichter Antrag könnte die ganze Geschichte dieses Ortes anerkennen und wäre damit zugleich sein bester Schutz", so die Friedenspreisträger. "Was hier trennt ist der ausschließliche Anspruch auf Wahrheit. Eine Perspektive des Friedens dagegen wird ermöglicht durch ein ganz einfaches Kriterium, das wir auch bei Karl Jaspers gefunden haben: Wahr ist, was uns verbindet!."

Hans Ulrich Gumbrechts Lobrede für zwei Freunde

Die Laudatio auf Aleida und Jan Assmann hielt der Literaturwissenschaftler und Publizist Hans Ulrich Gumbrecht, für den die Lebensleistung und die Ehrung der beiden Freunde auch eine Ermutigung für die Geisteswissenschaften ist. In seiner sehr persönlichen Würdigung schlug Gumbrecht den großen Bogen vom Familienleben des Preisträger-Paares bis zur Fragilität des Friedens von heute.

Seine Lobrede bliebe, befand der Laudator, "ohne Mitte, wenn sie nicht auf die Familie von Jan und Aleida Assmann und auf ihre Liebe schaute – in einer Zeit, wo gerade Liebe und Familie alle Selbstverständlichkeit verloren haben", so Gumbrecht: "Das gilt auch für den Frieden, der während der fast 70 Jahren seit Erfindung des Frankfurter Preises in seinem Namen leider nicht zu einem bloß dekorativen Thema geworden ist und deshalb härtester Maßstab für die Bedeutung der Preisträger blieb."


Die "besondere Menschenpflicht" der Buchhändler und Verleger

Als "Wegbereiter einer klugen und aufgeklärten Erinnerungskultur" bezeichnete Börsenvereinsvorsteher Heinrich Riethmüller das Wissenschaftler-Paar in seinem Grußwort: "Ihre Forschungen und Arbeiten sind Grundlagen dafür, wie eine moderne Gesellschaft aus der Vergangenheit lernen kann, um in Frieden und Freiheit leben zu können. Und für uns – für die Buchhandlungen und Verlage – ist die Vermittlung dieser Werte unsere ganz besondere Menschenpflicht.“

Der Friedenspreis des deutschen Buchhandels wird seit 1950 vom Börsenverein vergeben. Alle Reden, auch das Grußwort von Frankfurts Oberbürgermeister Peter Feldmann, lassen sich in einer Beilage der nächsten Börsenblatt-Ausgabe nachlesen - und im Buch, das Anfang November zur Friedenspreisverleihung 2018 erscheint.


Von Frankfurt weiter nach Leipzig

Am Dienstag, 15. Oktober, sind die Preisträger in Leipzig zu Gast -  im Alten Rathaus der Stadt. Stephan Detjen vom Deutschlandfunk wird ab 19 Uhr mit Aleida und Jan Assmann über ihr Leben, ihre Forschungen und über den Friedenspreis sprechen. Außerdem gibt es eine Uraufführung: Der Komponist und Pianist Stefan Litwin trägt zusammen mit dem Sänger Martin Backhaus Verse des altägyptischen Dichters Chacheperreseneb vor, die Ägyptologe Jan Assmann übersetzt hat. Der Eintritt ist frei.