Wunderhorn-Verleger Manfred Metzner im Interview

"Wir brauchen neue Graswurzelbewegungen"

25. Oktober 2018
von Börsenblatt
Der Heidelberger Literaturverleger Manfred Metzner fordert ein großes Bündnis aller, die das Buch für ein unerlässliches Kulturgut halten. Von den öffentlich-rechtlichen Medien über die Universitäten bis zu den Kulturministerien in Bund und Ländern müsse "die Vielheit der Literaturen in den Mittelpunkt einer neuen Avantgarde-Bewegung" gestellt werden.

Seit Monaten und allerorten arbeitet die Branche daran, wieder mehr Menschen zum Kaufen und Lesen von Büchern anzuregen. Betrifft Sie als Wunderhorn-Verleger diese Debatte überhaupt?
Gerade die unabhängigen Verlage betrifft dieses Problem seit vielen Jahren. Das war ein ausschlaggebender Grund dafür, dass wir im Jahr 2000 die Kurt-Wolff-Stiftung gegründet haben. Wir brauchten und brauchen auch in Zukunft Lobbyarbeit für die Independents.

Wie ist die wirtschaftliche Situation bei Wunderhorn?
Für uns ist der Käuferrückgang auch spürbar. Es kommt erschwerend hinzu, dass wir vergangenes Jahr an die VG Wort und die VG Bild-Kunst erhebliche Beträge zurückzahlen mussten. Das ist eine unglückliche Koinzidenz, die sich in ihren Auswirkungen natürlich stark bemerkbar macht. Es galt für uns schon immer, dass die Autoren und Literaturen, die wir verlegen, auf der Seite unserer Leser eine große Neugier und Offenheit voraussetzen. Die Durchsetzung unserer Bücher am Markt war noch nie einfach.

Der Lesermarkt der Neugierigen und Aufgeschlossenen, die sich noch gerne anstrengen – ist der ähnlich rückläufig wie zuletzt der Gesamtmarkt?
Auch unser Markt verändert sich und wird in der Tendenz kleiner. Und wir Independents sind einfach verwundbarer. Das bemerke ich immer auf den Independent-Buchmessen, sei es in den Literaturhäusern München und Stuttgart, sei es in Bad Mergentheim oder im LCB am Wannsee: Dorthin kommt ja unser Publikum, das unsere Bücher im Buchhandel nicht mehr oder jedenfalls nicht in der gewünschten großen Auswahl findet. Dort führe ich mit den Menschen die wunderbarsten, oft sehr langen Gespräche. Aber diese Messen zeigen auch, gerade wenn du solche Programme machst wie wir bei Wunderhorn: Man muss heute enorm viel dafür tun, um Leser zu überzeugen und zu gewinnen. Da passiert nichts mehr von selbst. Hinzu kommt, dass die mediale Präsenz unserer Titel und überhaupt von Independent-Titeln immer mehr zurückgegangen ist in den Feuilletons und in den letzten verbliebenen TV-Magazinen bei den öffentlich-rechtlichen. Kurz:  es ist viel schwieriger geworden, die Aufmerksamkeit auf unsere unabhängigen Programme zu lenken.

Welche Rolle spielt Werbung für Sie?
Print-Anzeigen kosten viel Geld, so viel, dass wir sie nur gezielt in Literaturzeitschriften einsetzen. Natürlich bedienen wir auch Internet und Social-Media-Kanäle. Aber ich sehe nicht, dass sich das nennenswert in Buchkäufe umsetzt.

Kann es sein, dass Ihre Klientel an diesen digitalen Orten nicht so oft anzutreffen ist wie andere Leserzielgruppen?
Das stimmt sicherlich. Immer mehr Menschen in meinem Umfeld ziehen sich gerade aus den sozialen Medien wieder zurück, weil sie da keine Lust mehr drauf haben. Die Wunderhorn-Leser erreiche ich kaum mehr über Facebook, eher über Newsletter und E-Mails. Insgesamt wird es jedenfalls für uns nicht leichter, auf unsere Inhalte öffentlich hinzuweisen. Auf den lokalen unabhängigen Buchhandel können wir uns auch nicht allein stützen, weil der ja das gleiche Vermittlungs-Problem hat.

Ihr Verlag wurde diesen Sommer 40 Jahre alt. Wie schätzen Sie Ihre Aussichten auf weitere Jubiläen ein?
Es gab in den vergangenen Jahrzehnten immer dieses Auf und Ab der Branche. Aber die jüngsten Veränderungen am Lesermarkt haben für mich eine neue Qualität: Jetzt brennt allen der Kittel. Wenn es uns in den nächsten Monaten nicht gelingt, den Diskurs darüber, was mit dem Kulturgut Buch gerade passiert, mitten in die Gesellschaft zu bringen, dann sehe ich dieses Kulturgut und alle, die noch mit ihm handeln, als absolut gefährdet an.

Was sollte ein solcher Diskurs denn verhandeln?
Er muss schlicht die Frage beantworten: Was ist uns als Gesellschaft das Kulturgut Buch noch wert? Wollen wir diese Bücher eigentlich noch haben? Da sind nicht nur wir als Verlage, als Branche, als Interessenverbände gefragt, sondern ganz vorrangig muss sich auch die Politik bekennen.

In Reaktion auf die Buchkäuferzahlen denkt man genauer über Zielgruppen nach, auch darüber, ob Verlage die richtigen Marketing-Instrumente nutzen. Der Diskurs über das Kulturgut Buch steht eher nicht im Vordergrund. Aus Sicht insbesondere der großen Verlage, die auf einen großen Absatzmarkt angewiesen sind, ist deren Fokus aufs Handwerkliche doch sehr verständlich.
Die Konzerne stecken ihre Kraft in die Weiterentwicklung ihrer Algorithmen. Aber die andere Frage ist damit nicht obsolet: ob wir Kulturmenschen, die wir uns noch mit Büchern, mit Filmen, mit Theater, mit Musik beschäftigen, ob wir alle es noch einmal schaffen, in die Gesellschaft hinein den Diskurs über die kulturellen Güter zu tragen. Wir müssen klarmachen, was da gerade wegzubrechen droht und welchen Verlust das bedeutete. Das müssen wir mit klaren, harten Worten beschreiben und eine breite Mehrheit mobilisieren, die sich dieser Gefahr bewusst wird. Andernfalls sind wir Buchmenschen bald eine quantité négligeable, gesellschaftlich nicht mehr relevant. Dann hätten wir politisch verspielt.

Was die "Quantité" als Wirtschaftszweig angeht, ist unsere Branche immer schon négligeable gewesen.
Ja, stimmt. Und die Reaktion darauf war irgendwann die Erfindung der Rede von der 'Kultur- und Kreativwirtschaft', die dann plötzlich auf einem 140 Milliarden-Markt agiert. Das ist aus meiner Sicht eine Falle. Wir werden zu einer absurden wirtschaftlichen Größe, statt dass man unsere Inhalte und alles was mit diesen zusammen hängt in den Mittelpunkt stellt.

Der Lektor Konstantin Götschel vertritt die These, dass der Branche infolge ihrer ökonomischen Selbstinszenierungen bald kein Mensch mehr das "Narrativ vom Kulturgut Buch" glaubt. Stimmen Sie ihm zu?
Absolut! Es läuft bei uns doch gerade auf ein Inseldasein mit dem Kulturgut Buch hinaus. Die Diskussionen gehen nicht mehr in die Tiefe. Die Politik fördert die großen Formate, die Events und die Festspiele. In diese Formate hinein wird immer mehr Geld investiert. Weil viele das natürlich wahrnehmen, sieht die Politik sich darin dann legitimiert – seht her, wir tun was für die Kultur! Aber warum kommen aus der Politik keine Initiativen, um den Diskurs zu unterstützen, über den ich hier rede?

Wie würde für Sie wirksame politische Unterstützung aussehen?
Im Grunde brauchen wir neue Graswurzelbewegungen. Das ist zwar eine Idee aus den frühen 1970er Jahren, aber die Zeit ist ein zweites Mal reif dafür. So wie es damals mit den alternativkulturellen Bewegungen der siebziger Jahre passierte, die von der Basis kamen, so muss es jetzt laufen für das Buch. Diese Bewegung muss alte Wertschätzung für Literatur neu einspeisen in den Diskurs der Gesellschaft.

Diese Basisbewegungen von damals hatten aber viel mit Jugend und Aufbruch zu tun. Wie wollen Sie heute die Jugend fürs Buch mobilisieren?
Wir brauchen ein großes Bündnis für ein gemeinsames Projekt, Schulen und Universitäten müssen da einbezogen sein und mitmachen. Als Einzelkämpfer sind wir auf verlorenem Posten. Das Moderne an einer neuen Graswurzelbewegung wäre, dass sie sich nicht gegen die Politik wendet, sondern dass sie versucht, das politische Establishment zum Engagement anzustiften. Um es im Bild eines Bootes zu sagen, in dem wir uns alle befinden: Da muss jetzt jeder am Ruder sitzen oder Aufgaben übernehmen, wie in einem Achter oder auf einem großen Segelboot. Gemeinsam oder gar nicht, ist die Devise. Aber vorgeschaltet werden muss eben eine grundsätzliche Verständigung darüber, ob wir das überhaupt noch wollen – ein Kulturgut Buch. Ob uns dieser Wert noch etwas wert ist.

Und wie formen wir konkret diese neue Bewegung?
Es geht um einen umfassenden, spartenübergreifenden, mutigen, nationalen und internationalen Diskurs mit allen, die noch der Meinung sind, dass am Anfang das Wort war und das Buch ein unerlässliches Kulturgut ist. Da sind alle Interessenverbände gefragt, da muss die Politik verpflichtet werden, die öffentlich-rechtlichen Medien, die Universitäten, die Kulturministerien etc. Die Digitalisierung und Algorithmisierung lässt sich nicht mehr aufhalten, wir können aber gemeinsam für unsere Werte kämpfen. Das 20. Jahrhundert war von wichtigen kulturellen Bewegungen geprägt. Es ist an der Zeit, im 21. Jahrhundert das Buch, das Lesen und die damit verbundene Pflege unserer Synapsen für eine Vielheit der Sprachen und  Literaturen in den Mittelpunkt einer neuen Avantgarde-Bewegung zu stellen.