Jochen Jung über die mangelnde Zeit für Bücher

Der egoistische Leser

8. November 2018
von Börsenblatt
Woran liegt es, dass die Freude am Buch in den letzten Jahren messbar nachgelassen hat? Jedenfalls auch daran, dass Zeit und Neugier und Entgegenkommen heute weniger verfügbar sind – meint Jochen Jung.

Wenn in den vergangenen Jahren die Freude der Menschen am Buch messbar nachgelassen hat, dann war das letzte Jahr das, in dem die Branche den Befund zur Kenntnis genommen hat und das laufende das, in dem so mancher noch einmal versucht hat, ob sich das Problem nicht durch Abstreiten oder Nicht-darüber-Reden beseitigen lässt oder auf noch anderen Wegen.

Wir alle haben ja als Kinder ganz früh das Lesen als Vorlesen erlebt und mit der Stimme von Mutter oder Vater, Oma oder Opa das Vorlesen noch so aufregender Geschichten als probates Mittel zum Einschlafen kennengelernt. Und immer noch sagt mir so mancher Erwachsene, dass er ohne ein, zwei Seiten Lesen nicht einschlafen kann (und das heißt dann: mit Lesen sehr gut und verlässlich). Wenn ich aber nachfrage, welches Buch das denn war, tut man gern so, als wisse man das nicht mehr, und geträumt habe man auch von ganz etwas anderem.

Kürzlich las ich, dass auch das nächtliche Vorlesen für Kinder ausstirbt. Man brauche die Zeit dazu, den Kleinen das Handy zu entwinden, dem sie unbedingt das letzte Wort überlassen möchten. Vom Nachtgebet schweige ich lieber gleich.

Das Lesen von Texten in Buchform, in denen man selber zumindest auf Umwegen vorkommt (wie in aller gelungenen Literatur), entspricht offenbar immer weniger der Lust, das Untier Zeit zu vertreiben, und dass es manche Ältere trotzdem noch tun, ist für die Jüngeren offenbar keine Empfehlung. Wer Genosse der Zeit sein will, liest anderes. Kurzes. Privates.

Das Problem, denke ich, ist unsere Unfähigkeit oder jedenfalls unser Unwille, von uns selbst erst einmal abzusehen und das Interesse auf andere(s) zu lenken; das ist zwar typisch für Kinder und Jugendliche, aber bei Erwachsenen sollten wir das nicht gelten lassen. Literarische Texte zeichnen sich durch ihre eigene Sprache, eigene Haltung, eigene Musik und eigenen Duft aus, sie lehren uns die Wahrnehmung des zunächst Fremden, dann einfach Anderen und am Ende, wie zur Belohnung fürs Dranbleiben, als auch unser Eigenes Erkannten. Jedes noch so kleine Liebesgedicht lehrt uns das Geltenlassen des zuvor Unbekannten auf dem Weg über das Schöne. Das ist (die) Kunst.

Und Kunst verändert sich. Ständig. Sie ist dem Wandel unterworfen wie alles, was zur Kultur gehört. Wie zum Beispiel auch die Mode: Cäsar hätte sich sicher nicht vorstellen können, dass der gestandene Mann anders als in der Toga herumläuft. So wie der Wikinger im Pelz; Hauptsache, man ist nicht (im falschen Moment) nackt und man friert nicht. (Unglaublich, aber selbst die Jeans werden eines Tages verschwinden.)

Denken wir noch an den ewigen Wandel in der Küche. Im Tempel. Auf der Straße. Und denken wir vor allem daran, dass das Weiterreichen und Überliefern von Texten aller Art jahrhundertelang nur mit der Papyrusrolle denkbar und machbar war, wenn man nicht alles in den Marmor hacken wollte. Das Buch ist Kultur, und Kultur ist und hat Geschichte, und Geschichte heißt Wandel.

Aber ich will hier nicht herumphilosophieren, sondern nur darauf verweisen, dass das Problem des Buchs unser Umgang mit der Literatur ist, egal wie sie auf uns zukommt, ob als Roman, als Märchen, als Liebeserklärung oder als Facebook-News. Literatur braucht ungestört Zeit und Raum, Neugier, Geduld und Entgegenkommen. Und von all dem haben wir nur noch wenig zur freien Verfügung; wenn wir es aber dem Lesen widmen, sind wir die Belohnten.

Das ist für Buchhändler noch nicht sehr beruhigend, aber es verweist auf die Textfreude des Menschen, und darin steckt auch die Überlebensgewissheit des Buchs.