Geschwister-Scholl-Preis für Götz Aly

"Ein Querdenker ohne Lehrstuhl"

20. November 2018
von Börsenblatt
Der Geschwister-Scholl-Preis kehrt zu seinen Wurzeln zurück: Am Montagabend ist der Historiker Götz Aly in München ausgezeichnet worden - für seine Studie "Europa gegen die Juden. 1880 – 1945" (S. Fischer).

"Neid und Antisemitismus gedeihen, wenn wir schweigen und die Zeichen der Zeit ignorieren": Das machte Michael Then, Vorsitzender des bayerischen Landesverbands im Börsenverein, bei der Preisverleihung am 19. November deutlich.

Heute, so Then, werde in der Flüchtlingspolitik "ein Widerstreit zwischen humanitären Imperativen und sozialstaatlichen Besitzständen beschworen." Die Bücher von Götz Aly dagegen, speziell das nun ausgezeichnete Werk, seien Leuchttürme eines humanitären Handelns: "Sie helfen uns, Handlungen vorzubereiten und Sätze zu formulieren, die frei sind von Klischees." Alys Buch "Europa gegen die Juden" ist für Then nicht nur ein Geschichtswerk, sondern thematisiere Neid, Hass und Mitläufertum  - negative Größen, die heute wieder sichtbar würden.

Ein Preis für intellektuellen Mut

Zum 39. Mal wurde der Geschwister-Scholl-Preis (Dotierung: 10.000 Euro) in der Großen Aula der Ludwig-Maximilians-Universität verliehen – gemeinsam von der Landeshauptstadt München und dem Landesverband des Börsenvereins. Jährlich wird ein aktuelles Buch ausgezeichnet, das "von geistiger Unabhängigkeit zeugt, das "bürgerliche Freiheit, moralischen, intellektuellen und ästhetischen Mut" fördert, dem Gegenwartsbewusstsein "wichtige Impulse" gibt – wie es in den Richtlinien heißt.

In den vergangenen Jahren wurden dabei auch Werke geehrt, die sich nicht auf die Zeit des Nationalsozialismus beziehen  - etwa das Buch "Die Rückkehr" des libyschen Autors Hisham Matar oder die Publikation "Kritik der schwarzen Vernunft" des kamerunischen Politikwissenschaftlers Achille Mbembe. Mit Götz Aly und seiner Studie "Europa gegen die Juden" kehrte die Jury gewissermaßen zu den Wurzeln des Preises zurück.

Oberbürgermeister Dieter Reiter über eine "Reizfigur"

"Der Holocaust kann weder in seinen schnellen noch in seinen stockenden Abläufen begriffen werden, wenn man nur die deutschen Kommandozentralen im Blick hat." So schreibt Aly am Anfang seines Buchs. Hitlers Regierung habe zwar ganz klar die Tatherrschaft ausgeübt, es aber bei den Eroberungsfeldzügen zugleich geschafft, den latenten Antisemitismus in anderen Ländern zu aktivieren, so der Historiker, der ein unbequemer Denker ist und für seine nun ausgezeichnete Publikation auch Kritik einstecken musste. Sein Ansatz, dass Antisemitismus und Pogrome weit in die europäische Geschichte zurückreichen, ist zwar nicht neu - aber wichtig, um die Shoa in ihrem ganzen Ausmaß und Schrecken begreiflich zu machen.

Götz Aly sei eine Art "Reizfigur" in den historischen Debatten um den Holocaust, er sei ein "Querdenker ohne Lehrstuhl und Apparat", so der Münchner Oberbürgermeister Dieter Reiter in seiner Ansprache. Genau das verschaffe Aly einen geistigen Freiraum, den er jenseits akademischer Diplomatie zu nutzen wisse: "In jedem Fall aber beleben seine Quellenfunde, seine akribisch herausgearbeiteten Thesen und sein zuspitzendes Temperament das Forschungsfeld immer wieder aufs Neue."

Laudator Patrick Bahners: Was Asterix und Götz Aly gemeinsam haben

"Bei Götz Aly ist alles explizit. Will sagen: ausbuchstabiert, belegt und begründet, in der Wortwahl deutlich oder vorsichtshalber lieber überdeutlich." So näherte sich Patrick Bahners, Historiker und FAZ-Redakteur, der Arbeitsweise des Preisträgers. Und zog dabei einen besonderen Vergleich zur Comic-Figur Asterix. Beide hätten eines gemeinsam: Sie würden sich nicht fürchten und Schritt für Schritt vorangehen, nach dem Motto „Frechheit siegt!“

Mit dieser Überzeugung müsse Götz Aly an die Arbeit gehen, meint Bahners - weil er ein Einzelkämpfer sei. „Wenn er eine Akte aus dem Institut für Zeitgeschichte benötigt, kann er keine Hilfskraft schicken. Er muss sich schon selbst herbemühen.“ Das sei arbeitsintensiv, mache aber auch unabhängig. Für Bahners ist "Europa gegen die Juden" wie alle Bücher von Götz Aly "ein originärer Beitrag zur Forschung, der aus unbekannten Quellen schöpft, und zugleich an uns alle gerichtet, an das große demokratische Publikum."

Der Preisträger über eine Forschungslücke zu Hans und Sophie Scholl

"Der Preis hat mich völlig überrascht", gestand Götz Aly auf der Bühne. Er sei zwar schon für viele Preise vorgeschlagen worden, doch dann habe es in Jury-Sitzungen oft geheißen: "Nee, der nicht!" In seiner Dankesrede ging er unter anderem auch auf die Namensgeber des Preises ein – und auf ein besonderes Zusammentreffen: Hans und Sophie Scholl wurden am 18. Februar 1943 beim Auslegen regimefeindlicher Flugblätter an der Universität München verhaftet und am 22. Februar um 13.30 Uhr hingerichtet. Genau eine Stunde später kamen etwa 3.000 Studenten zu einer Nazi-Kundgebung im großen Hörsaal zusammen. "Das waren 75 Prozent aller Immatrikulierten", so Aly: "Über diese 3.000 Jubelstudenten ist noch nie systematisch geforscht oder ausführlich berichtet worden." Gut möglich, dass er diese Aufgabe eines Tages übernimmt.