Standortanalyse Freiberg

Leseland, später

20. November 2018
von Nils Kahlefendt
In der mittelsächsischen Universitätsstadt Freiberg gibt es eine überraschend vielfältige Buchhandelslandschaft, die den Strukturwandel der gesamten Region widerspiegelt.

Das Geschäft in der Freiberger Altstadt, dessen Eingang von einem schmiedeeisernen Raben bewacht wird, ist gemütlich wie ein Wohnzimmer. Bei 45 Quadrat­metern kommt es auf jeden Zentimeter an, deshalb ruht in raumhohen Regalen, von einem Tischler aus dem Erzgebirge wie für die Ewigkeit gebaut, nur Handverlesenes. Hinter einem Vorhang befindet sich das winzige Küchenbüro, in dem gerade noch Platz für den Laptop der Verlagsvertreter ist.

Heike Wenige, in Freiberg geboren, hat ihre Buchhändlerlehre in den letzten Jahren der DDR absolviert. Als ihre Freundin Wenke Helmboldt Anfang der 90er Jahre die Buchhandlung Universitas in Chemnitz übernahm, stieg Wenige für zwei Jahre dort ein. 1994 gründete sie in Freiberg den Taschenbuchladen, der gerade mit dem Deutschen Buchhandlungspreis ausgezeichnet worden ist – bereits zum zweiten Mal. Daran war vor fast 25 Jahren nicht zu denken, als in der Burgstraße tristes Grau dominierte.

"Wir waren weit und breit der einzige Laden", erinnert sich Wenige. "Erst in den letzten 20 Jahren hat sich das entwickelt. Seit der Sanierung des Schlosses mit der Mineralienausstellung terra mineralia sind wir ein Anziehungspunkt für die Touristen."

In den ersten drei Jahren gab es bei Heike Wenige tatsächlich nur Taschenbücher – das Konzept sollte den Laden von der Konkurrenz abheben. Inzwischen bietet sie ein literarisches Vollsortiment an. Mit den Auswirkungen des Internethandels und des geänderten Leseverhaltens sieht sich auch Wenige konfrontiert. Immerhin: "Die Leute, die lesen, lesen mehr." Um diese Intensivleser kümmert sich die Buchhändlerin: mit "Vorlesetagen" für die Jüngsten, mit dem seit sechs Jahren in Kooperation mit dem Mittelsächsischen Theater organisierten "Lyrik-Salon" und mit der Reihe "Kultur zum Mittag".

Freiberg mit seinen rund 42.000 Einwohnern geht es vergleichsweise gut – eben wurde im Verwaltungssitz des 2008 gebildeten Landkreises Mittelsachsen sogar die Gewerbesteuer gesenkt. Freiberg ist Universitätsstadt der Bergakademie mit mehr als 4.000 Studenten. Die meisten werden zwar nicht als Vielleser auffällig, aber sie prägen die Stadt kulturell.

Über 800 Jahre war Freiberg vom Bergbau und der Hüttenindustrie geprägt, nach der Wende gelang unter dem Schlagwort "Silicon Saxony" der Strukturwandel zum Hochtechno­logie-Standort. Mit Solarworld siedelte sich Deutschlands einst größter Solarzellen-Hersteller an. Nach zwei Insolvenzen innerhalb weniger Monate steht die Produktion in Freiberg nun still, Verhandlungen mit einem Investor laufen.

Natürlich drückt das auch auf die Stimmung im Einzelhandel. Mit fünf Buchhandlungen ist die Kreisstadt zwischen Dresden und Chemnitz auffällig gut versorgt. Während manche Ecken des Freistaats schon mal zur buchhandelsfreien Zone verkümmern, scheint hier das einst beschworene "Leseland" zumindest möglich. Filialisten haben bislang einen Bogen um den Standort gemacht. Einzig Weltbild versuchte es zwischenzeitlich – ohne Happy End.

Zahlreiche Gebäude in der komplett denkmalgeschützten Freiberger Altstadt gehören zu den Objekten, mit denen sich die "Montanregion Erzgebirge" als Unesco-Welterbe bewirbt. Das spätgotische Alnpeckhaus am Obermarkt beherbergte schon zu DDR-Zeiten eine Filiale des Volksbuchhandels. Mit ihrer Chefin Gabriele Günther, inzwischen im Ruhestand, erwarben die damaligen Abteilungsleiterinnen Carsta Liebe und Petra Weigel die Glückauf-Buchhandlung von der Treuhand. "Für uns junge Frauen war es auch ein wenig die Flucht nach vorn", erinnert sich Weigel, "die Chance, selbstbestimmt weitermachen zu können."

Eine gute Investition: Seit einem großen Umbau 1986 nimmt das heute 273 Quadratmeter umfassende Vollsortiment zwei Etagen im Alnpeckhaus ein; die zeitlos funktionale Inneneinrichtung aus dunklem Holz wurde exklusiv für die Buchhandlung entworfen. "Damals waren wir 16 Mitarbeiterinnen, inklusive Hausmeister und Putzfrau", erklärt Liebe. "Heute sind wir zu fünft." Einen "Kraftakt" hatten die beiden Glückauf-Frauen 2016, ausgerechnet im 25. Jahr, zu über­stehen: Die Stadt verkaufte das historische Gebäude, der neue Eigentümer sanierte noch einmal vom Keller bis zum Dach. Für fünf Wochen zog die Buchhandlung in ein Interims­quartier. Über die Jahre, erzählen die beiden Frauen, habe der Umsatz leicht nachgegeben. Doch: "Oben im Gebirge, etwa in Marienberg, sieht es weitaus schlechter aus."

Die Buchhandlung Seitenweise am Anfang der Erbischen Straße lockt mit einem tollen Lyrik-Schaufenster: "alle Tage ein Gedicht". Ursula Steinborn, die nach zehn Sortimenter-Jahren im Ruhrgebiet und in ­Heidelberg 1998 in die Heimat zurückgekehrt ist und in der Freiberger Bahnhofstraße ihre Buchhandlung eröffnet hat, zog im Oktober 2015 in die Altstadt. Ein lohnender Schritt, denn seither wachsen die Umsätze – gegen den Trend. Steinborn hat an der Fernuni Hagen Literatur studiert und setzt deshalb stark auf Belletristik. Sie legt großen Wert auf eine gute ­Backlist: "Gerade im Taschenbuch habe ich viele Titel, die 30 Jahre und älter sind", sagt Steinborn – und zieht ein ­Suhrkamp-Bändchen von Thomas Rosenlöcher aus dem Regal, der inzwischen in der Nähe, an der Talsperre Klingenberg, wohnt.

Ältere Stammkunden wissen ein breites christliches Sortiment zu schätzen, doch Steinborn arbeitet auch regelmäßig mit Schulen und Kitas zusammen: Lesenachwuchs. In ihrer "Schatztruhe" – einer Glasvitrine aus Beständen einer evangelischen Kirchgemeinde – lagern Insel-Bändchen, aktuell wartet bereits die Weihnachtskollektion unterm Glassturz. Auf eigene Veranstaltungen verzichtet Steinborn noch, doch sie übernimmt regelmäßig Büchertische, etwa in der Stadtbibliothek oder für die Kulturinitiative "Frauenfrühstück". Die Social-­Media-Klaviatur, die Heike Wenige routiniert bedient, ist Steinborn egal. "Ich stehe lieber mit den Kundinnen am Regal." 

Der Flachbau der Akademischen Buchhandlung, 1966 auf dem Campus der Bergakademie errichtet, bietet den denkbar größten Kontrast zu den historischen Bürgerhäusern der Altstadt. "Midcentury Modern" heißt so was unter Architekturfans im Westen, im Osten kommt schnell mal die Abrissbirne vorbei. Anne Münzner, die 1998 ihr Abitur in Freiberg machte, hat in den lichtdurchfluteten Räumen bei Barbara Hackel gelernt und den Laden zehn Jahre später übernommen – inklusive einer kleinen Altstadt-Filiale, dem ­Büchereck am Dom. "Ich habe nicht lange überlegt, das war eine Chance, die man nur einmal im Leben bekommt", sagt die zweifache Mutter.

Während es seither im Fachbuch, dem die Buchhandlung ­ihren Namen verdankt, zu deutlichen Rückgängen gekommen ist, boomt das wissenschaftliche Antiquariat, etwa in den ­Bereichen Bergbau oder Geologie. "Das Internet ist für uns Fluch und Segen zugleich", erklärt Münzner. "Während wir im Neubuch Kunden verlieren, sind unsere antiquarischen Schätze auch in Asien oder den USA auffindbar."

Die Akademische punktet mit engagierter Arbeit für Kinder und Jugendliche, wofür es bereits drei Mal das Gütesiegel ­Leseförderung des Börsenvereins gab. Das passt ins Bild: Ohne seine auffällig vielen engagierten Buchhändlerinnen wäre Freiberg vermutlich ein anderer Ort.